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Festvortrag von Carola Stern anlässlich der Immatrikulationsfeier zum Sommersemester 2003, FU Berlin

Festvortrag von Carola Stern anlässlich der Immatrikulationsfeier zum Sommersemester 2003

Nachdem der Präsident (Herr Professor Gaehtgens) die Erstsemester beglückwünschte, begann Frau Stern:


Herzlichen Glückwunsch auch von mir,

ich habe mir gestern Abend noch einmal überlegt, wann ich eigentlich zum letzten Mal in der FU gewesen bin. Da ist mir eingefallen, das war im Januar 1959, zum Anti-Atomkongress der Studenten, mit Helmut Schmidt, Ulrike Meinhoff und Probst Krüger. Und nun freue ich mich natürlich ganz besonders, heute über diese Einladung zu Ihnen zu sprechen, denn es lässt sich nicht verheimlichen, ich bin eine verkrachte Studentin der FU. Und da fühlt man sich natürlich besonders geehrt, wenn man hier einen Festvortrag halten kann. Nun bin ich überzeugt, Sie schaffen das alles, Sie kommen hier durch, aber wenn es Ihnen so gehen sollte wie mir, dann rate ich Ihnen, schlagen Sie sich durch, besorgen Sie sich von irgendeiner Landesregierung einen Professorentitel für besondere kulturelle Leistung und kommen Sie nach 50 Jahren hierher und halten Sie den Festvortrag für Ihre Enkelkinder.

Und jetzt zu meinem Thema, viel zu umfangreich für diesen Vortrag.
Ich muss mich auf einige Gesichtspunkte beschränken. Ich wollte es endlich wissen: zu Hause im Journalismus, Hauptfach Politik, geübt im Bücherschreiben, Hauptfach Biographien, engagiert im PEN, also erfahren im Umgang mit Poeten und Politikern, beschäftigt mich seit langem schon die Frage: Was kann der Schriftsteller bewirken? Die Welt verändern? Staat? Gesellschaft? Oder wenigstens das Individuum?
Nicht einmal das, meint Reich-Ranicki. Haben die Tragödien und Historien Shakespeares auch nur einen einzigen Mord verhindert, fragt er in seinen Memoiren, hat Lessings Nathan den im 18. Jahrhundert ständig wachsenden Antisemitismus zumindest eingeschränkt, machte Goethes Iphigenie die Menschen humaner, wurde wenigstens ein einziges Individuum nach der Lektüre seiner Gedichte edel, hilfreich und gut? Das sind eindrucksvolle und zugleich ernüchternde Fragen. Wie könnte man den Kritiker widerlegen?
In Erinnerung an einen Junitag des Jahres 1880 in Moskau hielt Dostojewski zu Ehren Puschkins eine große Rede. Am Ende riefen ihm junge Leute zu: "Sie haben uns besser gemacht durch Ihre Bücher!" Das sollen Bücher auch, forderte Zola.
Ich habe weiter gesucht nach handfesten Beispielen für die pädagogische Wirkung einzelner Autoren. Hier das Ergebnis: Charles Dickens hat in seinen Romanen ein anschauliches Bild der erschreckenden sozialen Zustände der englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gezeichnet, und so schließlich dazu beigetragen, die Verhältnisse in den britischen Armenhäusern, Spitälern, Gefängnissen und Schulen zu verbessern. Ein Erfolg, wie ihn nur selten ein Schriftsteller erreicht.
Ein zweites Beispiel aus dem 19. Jahrhundert: So problematisch uns heute die Darstellung der Schwarzen in Harriet Beecher-Stowes Onkel Tom's Hütte auch erscheint, die ungewöhnlich erfolgreiche Familienstory hat viele Menschen aufgeschreckt und zu Anhängern der Sklavenbefreiung in Amerika gemacht. "Dies also ist die kleine Dame, die den großen Krieg, den Amerikanischen Bürgerkrieg, herbeigeführt hat", soll Abraham Lincoln geäußert haben, als er die Autorin traf.
Zu den bedeutendsten holländischen Prosawerken dieser Zeit gehört der Roman Max Havelaar des Niederländers Edward Dekker, veröffentlicht unter dem Pseudonym Multatuli, in dem auf die durch die Kolonialpolitik verursachten unerträglichen Zustände der einheimischen Bevölkerung in Niederländisch-Indien hingewiesen wird. "Das Buch fuhr wie ein Blitz hernieder, schlug ein und setzte Flammen", so ein Kritiker. "Ein Schaudern ging durch das Land", so ein Parlamentarier. Reformen wurden eingeleitet. Die Aufdeckung von Übeln übernimmt im 20. Jahrhundert oft der Journalist, nicht der Literat, die Zeitung, nicht das Buch.
Doch Solschenizyns Wirkung - er durchbrach in der Sowjetzeit die Mauer des Schweigens und berichtete von der Welt des Schreckens in den sowjetischen Lagern - kann man gar nicht überschätzen.
Ausnahmen, ich weiß. Aber mich auf die Nobelpreisrede von Günter Grass beziehend frage auch ich: Wenn Bücher im allgemeinen so gar keine politische Wirkung haben, was macht sie und ihre Verfasser dann derart gefährlich, dass zuweilen Staat und Kirche, nicht zuletzt Politbüros, so rabiat gegen sie vorzugehen pflegen? Weil der Autor bezweifelt, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt? Weil er die Vergangenheit nicht ruhen lassen will? Weil Leichen ausgegraben, verbotene Zimmer betreten, heilige Kühe geschlachtet werden? Weil der Verfasser sich nicht mit den Siegern gemein macht, sondern mit Verlierern? Weil die Sieger ahnen, dass Literatur unter bestimmten Umständen eine größere Sprengkraft enthält als eine ganze Wagenladung Dynamit?
Nun höre ich aber immer wieder, der Schriftsteller verstände nicht mehr von Politik als andere. Niemand habe ihn Kraft seines Berufes mit einem politischen Mandat betraut. Was also berechtigt ihn, sich zum selbsternannten Sprecher anderer aufzuwerfen, ja womöglich der Nation? Die Sprache, wird er sagen. Er ist der Sprache mächtiger als andere. Ausgestattet mit diesem besonderen Handwerkszeug, reagiert er unter Umständen besonders kritisch und empfindlich auf Verlautbarungen und Reden jener, die politische Macht ausüben. Herrschaftskritik als Sprachkritik. Darin sah Max Frisch die Aufgabe des Schriftstellers. Wir können das Arsenal der Waffe nicht aus der Welt schreiben, äußerte er in den fünfziger Jahren, aber wir können das Arsenal der Phrasen, die man zur Kriegsführung braucht, durcheinander bringen und so auf Ideologien und Feindbilder zersetzend wirken. Zum Schreiben gehört Instinkt, Sensibilität, ein gutes Auge. Solche Eigenschaften könnten den Schriftsteller zum Seismographen befähigen. Sie lassen ihn zuweilen früher als andere wahrnehmen, was verborgen und geleugnet wird. Die gesellschaftlichen Zustände messen an dem, was er über die menschlichen Wünsche und Vorstellungen, Leiden und Sehnsüchte, Hoffnungen und Schmerzen weiß.
Abstinenz oder Einmischung, auch die Poeten sind zerstritten. Die einen berufen sich auf Goethe. Der schrieb an Heinrich Luden: "Warum sollte ich mich um politische Angelegenheiten kümmern? Ich hasse alle Pfuscherei, vor allem in politischen Angelegenheiten." Und eben die kommen dabei heraus, wenn der Dichter mitreden wolle. Er vertraue denen, die die Macht ausüben. Dem widersprachen damals Ludwig Börne und andere Autoren des jungen Deutschland. Die Pfuscher waren für sie die Mächtigen, und sie, die Dichter, fühlten sich berufen, Wahrheiten und Werte hochzuhalten und den Pfuschern dreinzureden. Welche dieser Meinungen hat sich hierzulande durchgesetzt? Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen Geist und Macht im 20. Jahrhundert?
Trunken vor Begeisterung stürmte die literarische Elite im wilhelminischen Deutschland 1914 in den ersten Weltkrieg. Und wer zu alt oder schwach zum Kämpfen war, schrieb wenigstens Kriegsgesänge. Alle jubelten dem Kriegsgott zu. Schriftsteller, die sich bis dahin kaum öffentlich zu Wort gemeldet und sich nie mit Politik beschäftigt hatten, fühlten sich berufen auf ihre Weise nun lauthals für Kaiser und Reich zu fechten. Der Krieg wurde verklärt zur Prüfung der Nation, in der sich alle menschlichen Tugenden, Schönheit und Kraft entfalten und die Deutschen über ihre Feinde siegen würden. Mit den Jahren wich der Rausch.
Bemerkenswerte Bildung und bedeutende Begabung, ein großer Name in der Literatur schützen nicht vor Verblendung und Verstrickung. Immer wieder werden wir konfrontiert mit dem politischen Unverstand von Dichtern, deren Werke wir lieben, die uns viel bedeuten. Man denke nur an Knut Hamsun oder Ezra Pound. Das Reich und seine Dichter, das Jahr 1914 liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wohin es führen kann, wenn die Distanz zwischen Geist und Macht aufgegeben wird.
Anders 1933. Als Hitler an die Macht kam, ging fast die gesamte deutsche Literatur ins Exil. Von Toller bis Tucholsky, von Anna Seghers bis Remarque, nicht zuletzt die Brüder Mann. Von jenen, die in Deutschland blieben, und nicht wie Mühsam und Ossietzky sogleich verhaftet wurden, reagierten einige auf den Hitler-Staat mit einem hörbar tapferen Nein. Ricarda Huch zum Beispiel. Doch selbst noch nach der Bücherverbrennung am 10. Mai vor 70 Jahren gelobten 88 deutsche Schriftsteller Adolf Hitler treueste Gefolgschaft. Auch Gerhard Hauptmann, Ina Seidel und andere stimmten Hitler zu. Ihre Begründungen unterschieden sich, aber ähnlich wie zum Beispiel der Expressionist Gottfried Benn, bis 1933 stets ein Gegner engagierter Kunst, begrüßten auch bekannte national-konservative Autoren den NS-Staat zunächst als Beginn des Zeitalters des wahren Preußentums, als nationale Erhebung und grundlegenden Neuanfang. Auch auf ihren Enthusiasmus folgte allerdings Ernüchterung, der Rückzug in die innere Emigration, in stillen, in sich gekehrten Widerstand, und als solcher oft kaum noch erkennbar.
Doch zurückblickend auf zwei Weltkriege hat mich zugleich beeindruckt sowie überrascht, dass Literatur selbst in bewegten Zeiten auch ganz unabhängig vom politischen Geschehen entsteht und sich behauptet. James Joyce schrieb sein Ulysses während des ersten Weltkrieges. Thomas Mann beendete Lotte in Weimar 1939 im amerikanischen Exil und Bert Brecht, den so vehement politisch Engagierten, beschäftigte während des zweiten Weltkrieges im skandinavischen Exil sein Volksstück über Herrn Puntila und seinen Knecht. Verwundert registrierte er, dass solche Kriege sein können und dass immer noch literarische Arbeiten angefertigt werden: "Der Puntila geht mich fast nichts an, der Krieg alles. Über Puntila kann ich alles schreiben, über den Krieg nichts. Es ist interessant, wie weit Literatur als Praxis wegverlegt ist von den Zentren der alles entscheidenden Geschehnisse." Und es ist interessant, das will ich hier hinzufügen, wie das ganz unzeitgemäße und auch das ganz unpolitische, künstlerische Werk plötzlich ungeahnte politische Wirkung zeigen kann. 1968 beispielsweise wird ein Träumender, wie Brecht ihn nannte, ein seit langem Begrabener im Prager Frühling eine geistige Revolution auslösen: Franz Kafka.
Geist und Macht, Schriftsteller und Politik - ein größerer Gegensatz in der Gestaltung dieses Verhältnisses ist kaum vorstellbar, wenn man auf das Deutschland der fünfziger Jahre blickt. Gemeinhin Gleichgültigkeit, zuweilen Unmut kennzeichnen das Verhältnis der Adenauer-Regierungen und der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu den Schriftstellern.
Im Ulbricht-Staat hingegen wurde ihnen, so offiziell, "die moralische Erziehung der Nation" übertragen. Schon in den ersten Nachkriegsjahren luden SED und Besatzungsmacht emigrierte Schriftsteller, besonders die bekannten, zur Rückkehr in die Sowjetische Besatzungszone ein, gewährten ihnen Privilegien und übertrugen ihnen verantwortliche Positionen im kulturellen Leben.
In der Bundesrepublik hingegen galten Emigranten als Menschen, die auf sicheren Logenplätzen weit entfernt vom Schuss dem Kriegsleiden nur zugesehen hatten. Sie wurden entweder überhaupt nicht mehr verlegt oder mussten lange darauf warten. Zum Tod von Heinrich Mann kam weder aus dem offiziellen Bonn noch aus seiner Geburtsstadt Lübeck ein Beileidstelegramm nach Kalifornien. Adenauers Außenminister Heinrich von Brentano verstieg sich, Bert Brecht mit Horst Wessel zu vergleichen.
Anerkennend und fördernd ging die SED auch auf jene jungen Autoren zu, die gerade erst zu schreiben begonnen hatten - auf Schriftsteller wie Christa Wolf und Hermann Kant, wie Erich Löst und Heiner Müller. Die zweite Generation der DDR-Autoren, geprägt durch ihre Kindheit und Jugend im NS-Staat, zunächst verstört, dann erschüttert über das Ausmaß der Verbrechen, beschämt und schuldbewusst, begriff dankbar die ihnen zur Versöhnung ausgestreckte Hand und tauschte - halb bewusst, halb unbewusst - die Ideologie, mit der sie aufgewachsen war, gegen die angebotene neue ein. Wie ihre älteren, zurückgekehrten Kollegen hielten auch sie die DDR für den besseren deutschen Staat, und es überzeugte sie, dass eine gerechte Gesellschaftsordnung nur im Sozialismus möglich sei. Auch ehrte sie ihr außergewöhnliches öffentliches Prestige. So fiel es leichter, über die rigorosen stalinistischen Praktiken in der DDR der fünfziger Jahre, die Tätigkeit der strengen literarischen Zensoren hinwegzusehen und sie als Begleiterscheinung eines schwierigen Neuanfangs zu bagatellisieren. Und zeugte nicht der Einspruch, und sei es auch nur gegen einen Ausdruck, eine Zeile, wie ernst der Dichter und sein Werk genommen, welche Verantwortung ihm übertragen wurde? Zunächst häufig unkritische Mitarbeit von Schriftstellern am Ulbricht-Staat, dagegen engagierte Kritik und nachhaltiger Protest ihrer westdeutschen Kollegen in der Adenauer-Ära, dieser Gegensatz gehört zu den Kennzeichen der deutschen Teilung in den fünfziger Jahren. Junge bundesdeutsche Autoren, die sich in der Gruppe 47 zusammengeschlossen und einen radikalen politischen Neuanfang erwartet hatten, bestürzte die schnell einsetzende Restauration. Insbesondere ein von Politikern geförderter Verdrängungsmechanismus, der jede Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verhinderte, und nicht nur Mitläufern im NS-Staat, sondern auch Tätern wieder den Einzug in Regierungsämter ermöglichte.
Und dann die Wiederbewaffnung, die die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung zerstörte und die Furcht vor einem Wiederaufleben des Militarismus aufkommen ließ. Und so finden denn auch die Darstellung des Lebens im NS-Staat, mit der das Schweigen darüber durchbrochen werden soll, sowie Erschrecken über die Gegenwart, Warnung und Widerspruch in den Erzählungen und Romanen von Autoren wie Wolfgang Köppen, Günter Grass, Siegfried Lenz und Heinrich Böll ihre nachhaltigste Ausdrucksform. Diese Autoren waren überzeugt, dass Literatur vor dem Nicht-mehr-sehen-wollen, vor dem Nicht-mehr-fühlen, Nicht-mehr-merken, vor Stumpf-werden und Gleichgültigkeit bewahrt. Geist und Macht standen sich als Antipoden gegenüber. Auf Kritik, die aus der Gruppe 47 kam, antwortete man in Bonn mit notorischer Intellektuellenschelte. Heinrich Böll galt als unberechenbarer Anarchist, und der Autor der Blechtrommel und der Hundejahre erfuhr, dass Bücher Wut, Hass freisetzen können. Der CDU-Politiker Dufhues verglich die Gruppe 47 mit der Reichsschriftumskammer in der Nazi-Zeit und Ludwig Ehrhard bezeichnete Rolf Hochhut und andere als Pinscher.
In den sechziger und siebziger Jahren wurde in beiden deutschen Staaten wiederum ein ganz neues Kapitel zum Thema Schriftsteller und Politik geschrieben.
Enttäuscht von ausbleibenden positiven Veränderungen nach dem Mauerbau, bestürzt über die Besetzung der Tschechoslowakei, und schließlich empört über die Ausweisung Wolf Biermanns aus der DDR, gewannen Autoren wie zum Beispiel Christa Wolf, Volker Braun und Christoph Hein kritische Distanz zu den Mächtigen. Sie wollten den so genannten real existierenden Sozialismus in der DDR zwar nicht stürzen, aber gründlich reformieren helfen. Sprecher der vielen zum Schweigen Verurteilten zu sein, so sah Günter de Bruyn nun die Aufgabe des Schriftstellers in der DDR. Freie Räume des Denkens, des Zu-sich-selber-findens, wollte Günter Kunert schaffen. In der Bundesrepublik hingegen treten Schriftsteller erstmals im Deutschland des 20. Jahrhunderts unübersehbar den Wandel des Zeitgeistes voran, und gewannen Einfluss auf die Politik. Offen riefen sie dazu auf, die CDU abzuwählen und der SPD zur Regierungsübernahme zu verhelfen. Angeführt von Günter Grass gründete man eine sozialdemokratische Wählerinitiative, die der SPD neue Wählerschichten erschloss und zweifellos zu ihrer Regierungsübernahme 1969 beigetragen hat. Doch ebenfalls in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre brach die Gruppe 47 auseinander. Ihre Mitglieder zerstritten sich nachhaltig darüber, was nun eigentlich auf der politischen Tagesordnung stehe, Reform oder Revolution. Die einen blieben überzeugt, in einer sozialdemokratisch geführten Bundesrepublik werde der seit langem anhaltende Reformstau endlich aufgelöst, die Demokratie neu belebt und der Ost-West-Konflikt durch Entspannungspolitik gemildert. Für die anderen, stark beeinflusst von der außerparlamentarischen Opposition an den Universitäten, war die SPD nichts weiter als ein Teil eines heillos zerrotteten Systems.
In der Bundesrepublik, so formulierte es Hans Magnus Enzensberger, habe sich ein institutionell gesicherter und maskierter neuer Faschismus installiert, und deshalb sei die Revolution unausweichlich. Sein Kollege Peter Schneider meinte, dass es den westdeutschen Arbeitern und Bauern schlechter als in China gehe. Sie stürben an Unterdrückung und Erniedrigung. Die bürgerliche Ästhetik, Kritik, Literatur sei tot, scholl es aus diesem Lager. Die Neuentdeckung des Marxismus, die Revolution, sei deshalb unausweichlich. Naivität und Intellektualität, Agitprop und sprachliche Brillanz, Arroganz und Hilflosigkeit, das alles existierte nebeneinander. Und dennoch gewannen auch diese rebellierenden Dichter als Teil der APO Einfluss. Überspanntheit ist von jeder Neuerung unzertrennlich. Franz Grillparzers Erkenntnis bewahrheitete sich auch 150 Jahre später.
Nun endlich, unter anhaltendem Druck, begann auch in den Schulen, Medien, Parlamenten, und nicht zuletzt in Elternhäusern, die Aufarbeitung der Vergangenheit.
Schriller Protest gegen den Krieg in Vietnam, die Apartheid in Südafrika, die Ausbeutung der Dritten Welt, blieb auf das liberale Bürgertum nicht ohne Wirkung. Germanistische Seminare beschäftigten sich erstmals ausführlich mit der Rolle von Wissenschaftlern im Dritten Reich. Doch Mitte der siebziger Jahre, mit dem Amtsantritt von Helmut Schmidt, verebbte der Dialog zwischen Geist und Macht. Viele der erhofften Reformen hatte schon die Regierung Brandt nicht durchgesetzt. Sowohl das Ende des Vietnam-Krieges als auch der Terror der RAF leiteten das Ende der Revolutionsbegeisterung ein.
Noch einmal, zu Beginn der achtziger Jahre, engagierten sich Schriftsteller in der bundesdeutschen Friedensbewegung, um die Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland zu verhindern.
Auf zwei Jahrzehnte lauter politischer Einmischung folgte Stille. Unterstützt von der DDR-Bevölkerung blieb die Überwindung der deutschen Teilung Sache der Politiker. Die Schriftsteller spielten so gut wie keine Rolle im Vereinigungsprozess. Wie erklärt sich der mit der Wende einsetzende Rückzug zahlreicher einst engagierter Autoren, ihre Resignation, ihr Fatalismus?
Vergegenwärtigen wir uns die atemberaubenden Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts. Utopien und Wahrheiten, Ideologien und Sicherheiten, die noch seine zweite Hälfte prägten, sind versunken, nicht nur der Kommunismus. Auch der demokratische Sozialismus und die soziale Marktwirtschaft bieten keine überzeugenden Alternativen mehr gegen Arbeitslosigkeit, Globalisierung, und den zunehmenden Einfluss der Wirtschaft auf die Politik. Was bedeutet es noch, ‚links' zu sein? Der einstige Revolutionär Hans Magnus Enzensberger plädierte nun für den Abschied von moralischen Allmacht-Phantasien und sang ein Loblied auf die Bundesrepublik unter Helmut Kohl. In einem bemerkenswerten Aufsatz konstatierte der Tübinger Professor Jürgen Schröder: "Abhanden gekommen ist uns die herzerfrischende Freund-Feind-Landkarte und die reinliche Wasserscheide von Gut und Böse, seitdem es die Konfrontation der beiden großen politischen und militärischen Blöcke nicht mehr gibt. Wir wissen weder, wo wir selber stehen, noch wo dasjenige zu lokalisieren ist, dem wir widerstehen wollen. Die Stunde der einfachen Wahrheiten, Botschaften und Widerstandsaktionen ist vorbei."
Jawohl, die Literatur hat ihre frühere Wirkungskraft verloren, äußerten nun auch die Verunsicherten. Nun forderten die Feuilleton-Chefs großer Zeitungen eine gesinnungsfreie, zweckfreie Literatur. Sie konstatierten, dass der ästhetisch mündige Bürger sich möglichst fernzuhalten habe von jedwedem unter Politikverdacht stehendem Sujet oder Vokabular. Das Zeitalter der Literatur, in der Bücher zu den Taten von morgen Anlass gaben, scheint vorbei, konstatierte Günter Grunert. Gewiss, der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass mischte sich auch weiter ein, wurde von der Wirklichkeit zuweilen mit seinen Übertreibungen übertroffen, zuweilen auch eines Besseren belehrt, solidarisierte sich mit Verfolgten, provozierte zum lauten Ja und zum empörten Nein, ließ uns nicht in Ruhe, schon gar nicht die Politiker, und wurde zum Einzelgänger innerhalb der Zunft. Ein großer Teil seiner älteren Kollegen zog sich je nach Begabung zurück in den Elfenbeinturm oder in das Schneckenhaus. Jüngere wurden als begabte Selbstdarsteller Zulieferer der Pop-Kultur, der Spaßgesellschaft in den Partyschuppen mit ihren literarischen Events und dem unermüdlichen Trallala in vielen Medien. Der Schriftsteller von heute ist jung, schick und heiter, gibt sich abgeklärt, illusionslos und mit allen Wassern des Umgangs mit der virtuell verdoppelten Wirklichkeit unserer Medien- und Konsumwelt gewachsen. So charakterisierte ‚Die Zeit' den neuen Autorentyp. Das war gestern.
Und heute? Ist wieder alles anders? Im Augenblick sieht es so aus. Eben noch war vom Ende aller Utopien und von einer völlig entpolitisierten Jugend die Rede, und nun in diesem Frühjahr 2003 erleben wir angesichts des Irak-Krieges einen spontanen Aufstand, nein, nicht der Schriftsteller, sondern der Jungen, der Schülerinnen und Schüler. Sie bilden den Kern der bisher größten und friedlichsten Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. Ihrem Charakter nach parteiübergreifend, ja partei-unabhängig, mit der Regierung im Grundsatz einig, und beflügelt durch den weltweiten Protest gegen diesen Krieg. Die Jungen, so sieht es aus, pusten jenen dichten Mehltau weg, der seit Jahren über unserem Land liegt und uns das Atmen immer schwerer macht.
Vor meinen Augen sehe ich tausende von jungen Menschen zu Ostern für den Frieden demonstrieren, und entschließe mich nun, wider alle rhetorischen Regeln und Gesetze, mein eigentliches Thema einfach aufzugeben, meine Kollegen, die Autoren, die ja auf Dauer doch unverzichtbare Chronisten des Zeitgeschehens bleiben, zuschauend an den Straßenrand zu stellen und mich Ihnen hier direkt zuzuwenden. Lassen Sie uns gemeinsam über den Charakter dieser neuen Bewegung nachdenken. Einer Bewegung, die den Zeitgeist wiederum verändern könnte, und uns fragen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Zwar steht das Nein zum Krieg im Vordergrund, doch zugleich, Professor Rucht von der FU hat darauf hingewiesen, drückt diese Bewegung der Jungen ein zunehmendes Unbehagen an den globalen politischen Verhältnissen aus. Immer mehr identifizieren sich mit dem 1998 in Frankreich entstandenen Organisationsbündnis Attac. Dessen Tätigkeit richtet sich gegen eine Globalisierung, die dominiert von mächtigen Wirtschaftsinteressen, Großbanken und internationalen Konzernen die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt vertieft. Attac fordert eine neue, gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Ein weitgestecktes Ziel. Immerhin, in der Bundesrepublik sind in den letzten Jahren 160 Aktionsgruppen und Arbeitskreise entstanden. Wächst da eine weltweite Protestbewegung heran, die Einfluss auf die Politik gewinnen könnte? Welche Folgen zeitigt der moderne, der totale Krieg? Und wie können jene Ursachen beseitigt oder doch abgeschwächt werden, die zu militärischen Konflikten führen? Darüber nachzudenken und seine Tatkraft für den Wandel einzusetzen, ist meines Erachtens jetzt das Wichtigste.
Die Folgen des modernen Krieges stehen uns im Irak anschaulich vor Augen. Panzer und anderes schweres Kriegsgerät haben die Kieselschichten der Wüsten aufgerissen, das vermehrt die Sand- und Staubstürme im Land. Auslaufendes Öl führt durch das Einatmen giftiger Stoffe zu Gesundheitsschäden, zur Verseuchung des Trinkwassers, der landwirtschaftlichen Hauptanbaugebiete an den großen Flüssen. Brennendes Öl erzeugt einen verheerenden schwarzen Regen, führt zu Klimaveränderungen durch Temperaturabfall und zunehmenden starken Winden sowie ebenfalls zu Schäden der landwirtschaftlichen Nutzgebiete. Könnte Sie die Beschäftigung mit den Auswirkungen des Krieges auf die Lebensgrundlagen der Menschen anregen, sich der Arbeit der internationalen Umweltschutz-Organisation Greenpeace zuzuwenden? Der Frieden wird bedroht durch Armut und Hunger auf der Welt. Sie bilden einen Nährboden für Gewalt und Terror, für Flucht in den religiösen Fanatismus. Jährlich verhungern neun Millionen Menschen, täglich sterben 24.000 Kinder, weil sie nicht genug zu essen haben.
Ich beneide Sie darum, sich im kommenden Semester gründlich mit dem Theater am Hofe Ludwig XIV. und Hofmannsthals Dramen zu beschäftigen. Aber wäre es nicht wenigstens einigen von Ihnen möglich, in Zusammenarbeit mit der Welthungerhilfe sich zugleich einzusetzen für die Versorgung der Menschen in den zerstörten Städten und Dörfern des Irak, für den Bau von Brunnen in afrikanischen Dörfern oder die Einrichtung von Ausbildungsstätten für Straßenkinder in Lateinamerika? Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Und schließlich: Die Unterdrückung von Menschen führt auf Dauer immer wieder zu Revolten, Aufständen und Kriegen. Für die Verwirklichung der Menschenrechte in allen Staaten setzt sich mit gewaltfreien Mitteln Amnesty International ein, deren deutsche Sektion Gerd Ruge und ich 1961 gegründet haben und deren Mitglieder hier an der FU Sie an ihrem Stand gerade gegenüber von der Garderobe über unsere Arbeit informieren.
Können Sie sich vorstellen, wie die Arbeit von Amnesty mein Leben bereichert hat? Ich begriff, was Toleranz bedeutet. In meiner Jugend von Mitleidlosigkeit bedroht, erwarb ich die menschliche Fähigkeit zum Mitleiden, zur tätigen Hilfe und Solidarität mit der von Steinigung bedrohten Frau im Iran, dem verfolgten chinesischen Sektenmitglied und dem Flüchtlingskind aus dem Irak. Darum will ich in einer Zeit, in der Visionen und Utopien nichts mehr gelten sollen, festhalten an der Vorstellung von einer Welt ohne Terror, Folter und Verfolgung. Auch die Abschaffung der Sklaverei und der Leibeigenschaft waren einmal Utopien. Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, ich, die jetzt bald Achtzigjährige, gehöre zu einer Generation, die in ihrer Jugend das erste Mal moralisch auf die Probe gestellt, versagte. Laut Heil rufend sind zu viele von uns damals zu Mitschuldigen geworden. Gewiss will ich nicht vergleichen, was nicht zu vergleichen ist, doch dessen bin ich gewiss, eines Tages werden auch Sie Ihre Kinder und Enkelkinder fragen: Ihr habt es doch erlebt, wie unsere Umwelt immer mehr verrottete, ihr habt es doch gewusst, wie viele Menschen auf der Welt verhungert, wie viele erniedrigt und verfolgt worden sind, durch Krieg und Terror um ihr Leben kamen. Und was habt ihr getan? Und ich hoffe, dass Sie dann besser dastehen werden als meine Generation.

16. April 2003