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„Organisationen und Systeme verändern sich oft in Zeiten großer Krisen“

campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ / Teil 5: Interview mit der Betriebswirtin Carolin Auschra vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität

07.04.2020

Wie gut ist das Gesundheitssystem auf die Corona-Krise vorbereitet? Für den fünften Teil unserer Serie haben wir mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Carolin Auschra gesprochen.

Wie gut ist das Gesundheitssystem auf die Corona-Krise vorbereitet? Für den fünften Teil unserer Serie haben wir mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Carolin Auschra gesprochen.
Bildquelle: shutterstock.com/khaleddesigner

Was verändert sich durch die Corona-Pandemie? Welche Folgen hat sie für das Leben jedes Einzelnen, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur? Im aktuellen Interview der campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ spricht Leon Holly mit Carolin Auschra, promovierte Betriebswissenschaftlerin am Management Department der Freien Universität über den Stresstest des deutschen Gesundheitssystems, die Versorgungslage und mögliche strukturelle Veränderungen nach der Krise.

Frau Auschra, dass die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit war, stand für viele Experten schon lange fest. Für wie gut halten Sie das deutsche Gesundheitssystem auf den Ernstfall, der jetzt eingetreten ist, vorbereitet?

Mein Eindruck ist, dass das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich ganz gut vorbereitet ist: Alle Patientinnen und Patienten bekommen die notwendige Versorgung, noch müssen Ärzte keine Triage durchführen, also – wie Medienberichten zufolge – in Kliniken in Italien, Spanien oder Frankreich entscheiden, wer aufgrund eingeschränkter personeller Kapazitäten oder fehlender Beatmungsgeräte behandelt werden kann und wer nicht.

Dr. Carolin Auschra vom Management Department der Freien Universität Berlin beschäftigt sich mit Fragen zum Gesundheitssystem.

Dr. Carolin Auschra vom Management Department der Freien Universität Berlin beschäftigt sich mit Fragen zum Gesundheitssystem.
Bildquelle: Studio Monbijou

Die doppelte Vorhaltung in Deutschland, also die Parallelstruktur aus ambulanter und stationärer Behandlung, die oft kritisiert wird, könnte sich als ein Vorteil erweisen, da so auf mehr Ressourcen für die Versorgung zurückgegriffen werden kann. Das gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass zeitnah die Ausstattung mit allem erforderlichen Schutzmaterial erfolgt. Dasselbe trifft auch auf die im internationalen Vergleich hohe Anzahl von Intensivbetten in zu, die es in Deutschland gibt.

Allerdings muss man auch sagen, dass wir hierzulande noch am Anfang der Pandemie stehen. Ich bin aber relativ optimistisch wegen der vielen Maßnahmen, die derzeit getroffen werden, um der Pandemie entgegenzuwirken.

Welche wären das zum Beispiel?

Dazu gehört vieles, dessen Umsetzung normalerweise lange gedauert hätte: So richten Kliniken – trotz möglicher finanzieller Verluste – neue Intensivbetten ein. Außerdem ist DIVI eingerichtet worden, das Deutsche Intensivregister, über das sich die Krankenhäuser besser austauschen können: So wird schneller ersichtlich, wo leere Intensivbetten bereitstehen, und COVID-19 Pateinten könnten zentral verteilt werden. Gerade ist ein Verordnungsentwurf vorbereitet worden, der die Meldung bei DIVI verpflichtend machen soll.

Umgekehrt – welche Mängel im Gesundheitssystem treten zutage?

Die Schwächen, die es vorher schon gab. Zum einen sind da die knappe Personalausstattung und die Unterbezahlung von professionell Pflegenden, und zwar sowohl im stationären Sektor als auch außerhalb: in den stationären Pflegeeinrichtungen und im ambulanten Pflegedienst. Das verschärft die Situation, denn dort vor allem häufen sich die COVID-19-Fälle; das sehen wir ja jetzt schon.

Darüber hinaus herrschen unattraktive Arbeitsbedingungen im öffentlichen Gesundheitsdienst, vor allem in den Gesundheitsämtern. Die Bezahlung für dort angestellte Ärztinnen und Ärzte ist oft schlechter als im Krankenhaus oder in niedergelassenen Praxen. Darum hatten solche Organisationen beispielsweise schon vorher Probleme, Stellen zu besetzen.

Auch über bestehende Pandemiepläne und deren Umsetzung wird diskutiert werden müssen. In diesem Zusammenhang wird auch die Praxis der Lagerhaltung von Schutzmaterialien thematisiert werden: Dabei müssen die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pandemie eintritt, Lagerkosten, Bezugskosten und die kurzfristige Verfügbarkeit von Materialien gegeneinander abgewogen werden.

Gibt es in Deutschland ein Versorgungsgefälle? Nehmen wir etwa an, jemand müsste jetzt mit einer durch COVID-19 verursachten Lungenentzündung dringend stationär behandelt werden: Wäre es dann besser, er lebte auf dem Land oder in der Großstadt?

Ein Versorgungsgefälle gibt es nicht nur zwischen Stadt und Land. Auch in Großstädten gibt es gewisse Regionen, die schlechter ausgerüstet sind als andere. Die Anzahl der Regionen in Deutschland, in denen es eine akute Unterversorgung im ambulanten Sektor gibt, ist aber eher gering. Aber selbst in diesen Regionen wird das im aktuellen Fall von COVID-19 aller Voraussicht nach keine große Rolle spielen, da nach dem heutigen Stand immer die Möglichkeit besteht, Patientinnen und Patienten von einer Klinik in eine andere zu verlegen. Die Kliniken kooperieren ja, um freie Betten ausfindig zu machen – was wiederum den Vorteil hat, dass Krankentransporte gezielt Kliniken mit Kapazitäten ansteuern können.

Welche Veränderungen im Gesundheitssystem sind für die Zeit nach der Coronakrise schon jetzt absehbar?

Gesundheitsversorgung ist in Deutschland vor allem regional organisiert. Aber im Falle einer Pandemie muss man überregional denken – wie die Vernetzung von Kliniken zeigt. Darüber hinaus könnten sich Arztpraxen über die Kassenärztlichen Vereinigungen in verschiedenen Stadtteilen oder Landkreisen vernetzen und darüber austauschen, wo Corona-Tests durchgeführt werden können.

Auch die Frage, ob nicht alle, sondern nur ausgewählte Praxen nach Möglichkeit mit COVID-19-Patienten in Kontakt kommen sollten, stellt sich – und sollte für die Zukunft diskutiert werden.

Andererseits werden größere Themen – etwa Digitalisierung und Vernetzung – ja bereits seit rund zehn Jahren und länger diskutiert. Vielleicht wird hier die Coronakrise zu grundlegenden Veränderungen führen, ich denke etwa an die flächendeckende Nutzung von Videosprechstunden. Und ich hoffe natürlich, dass die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung von professionell Pflegenden endlich nachhaltig verbessert werden!

Könnte COVID-19 hier eine Katalysatorwirkung entfalten und Veränderungsprozesse beschleunigen?

Organisationen und Systeme verändern sich oft in Zeiten großer Krisen, weil sie dann gezwungen sind, sich schnell an die neue Situation anzupassen. Ungewiss ist noch, ob die Vernetzungsstrukturen im Gesundheitssystem, die momentan vor allem bundesweit errichtet werden, die Krise auch überleben werden.

Da gibt es Parallelen zu anderen Bereichen, in denen gerade auch vieles in Bewegung ist: Wird es auch zukünftig mehr Möglichkeiten für digitale Lehre an der Universität oder die Arbeit im Homeoffice geben? Die Krise kann viele Prozesse in der Gesundheitsversorgung stark beschleunigen. Die Frage ist nur, ob sich dadurch etwas nachhaltig verändert.

Welche Empfehlungen lassen sich aus Ihrer Forschung ableiten?

Ich beschäftige mich schon länger mit sogenannten Grand Challenges, wie sie etwa auch unter dem Dach der Berlin University Alliance erforscht werden. Grand Challenges sind komplexe Probleme von globaler Tragweite, wie etwa der Klimawandel oder Armut in Entwicklungsländern. Um bei der Bewältigung derartiger Herausforderungen voranzukommen, ist die Beteiligung vieler Akteure notwendig.

COVID-19 ist offensichtlich eine solche Herausforderung. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen schaue ich mir deshalb derzeit an, welche unterschiedlichen und teilweise auch widerstreitenden Erzählungen und Lösungsvorschläge die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure in der aktuellen Situation anbieten, beispielsweise Vertreter aus Regierung, Wirtschaft oder Medizin. Wir stecken derzeit in der Phase der Datenerhebung. In vier Wochen können wir vermutlich schon mehr sagen.

Weitere Informationen

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Englische Übersetzungen: