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Das Fremde in uns und das Eigene im Fremden

Der Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha hielt an der Freien Universität die Hegel-Lecture 2010 über paradoxe Gemeinschaften und Zwischenräume kultureller Identifikation

29.01.2010

Homi Bhabha sprach über „Unsere Nachbarn und wir: Zeitgenössische Betrachtungen über das Überleben“

Homi Bhabha sprach über „Unsere Nachbarn und wir: Zeitgenössische Betrachtungen über das Überleben“
Bildquelle: Stephan Töpper

v.l.n.r: Prof. Erika Fischer-Lichte, Prof. Ulla Haselstein, Prof. Homi K. Bhabha, Prof. Joachim Küpper

v.l.n.r: Prof. Erika Fischer-Lichte, Prof. Ulla Haselstein, Prof. Homi K. Bhabha, Prof. Joachim Küpper
Bildquelle: Stephan Töpper

Der Literatur- und Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha kam auf Einladung des Dahlem Humanities Center

Der Literatur- und Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha kam auf Einladung des Dahlem Humanities Center
Bildquelle: Stephan Töpper

Bhabha griff in seinem Vortrag politische, philosophische, literarische und künstlerisch-ästhetische Aspekte der Identifikationsfindung auf

Bhabha griff in seinem Vortrag politische, philosophische, literarische und künstlerisch-ästhetische Aspekte der Identifikationsfindung auf
Bildquelle: Stephan Töpper

Homi Bhabha, der an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, Geisteswissenschaften („Humanities“) lehrt, widmet sich in seinem umfangreichen akademischen Werk der postkolonialen Theorie und den Fragen und Problemen kultureller Identität. Auf Einladung des Dahlem Humanities Center hielt der 60-Jährige die diesjährige Hegel-Lecture. Seinen Vortrag „Unsere Nachbarn und wir: Zeitgenössische Betrachtungen über das Überleben“ in englischer Sprache haben rund 700 Gäste im Henry-Ford-Bau der Freien Universität verfolgt.

Die „paradoxe Gemeinschaft“: Mit dem Begriff, den die Literaturtheoretikerin Julia Kristeva in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“ geprägt hat, begann Bhabha seinen Vortrag, der politische, philosophische, literarische und künstlerisch-ästhetische Aspekte der Identifikationsfindung aufgriff und miteinander verband.

Kristeva beschreibt in ihrem Buch die Situation in Frankreich vor rund zwanzig Jahren, als sich Migranten gleichermaßen als Teil der eigenen wie einer fremden Kultur begriffen haben. Bhabha blieben die Worte Kristevas von der paradoxen Gemeinschaft stets präsent – Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Identitäten, die nebeneinander leben und arbeiten.  Bhabha versuchte, das Konzept der paradoxen Gemeinschaft mit dem Gedanken einer „fragilen Politik der Anerkennung des Anderen“ zu verknüpfen, die für den in Mumbai aufgewachsenen, seit langem in den USA lebenden Wissenschaftler die Voraussetzung für das Überleben darstellt.

Von Kristeva über Hegel zu Lévinas und Derrida

Hier nahm Bhaba Bezug auf Hegel – den Namensgeber der Lecture – dessen Präsenz in unseren multikulturellen und transnationalen Zeiten, in denen sich die Frage nach der Entfremdung des eigenen Bewusstseins und der Beziehung des Eigenen zum Fremden immer wieder aufs Neue stellt, nie größer gewesen sei.

Die ethischen Grundsätze einer Anerkennung des Anderen – Würde, Respekt, Freiheit oder Fairness – sind laut Bhabha nur quasi-universell. Für Bhabha kann sich Universalität nur herstellen in der Wiederholung, und zwar dergestalt, dass eine Anerkennung des Anderen immer wieder antizipatorisch vollzogen werden und somit einen essentiellen Teil unserer demokratischen Wiederholungsrituale darstellen muss.  

Von Julia Kristeva, über Hegel zu Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida: Bhabha fragte, was es praktisch bedeutet, Sprache und Gastlichkeit („hospitality“) als Konzepte miteinander zu verbinden, was eine bedingungslose von einer bedingten Gastlichkeit trennt, und wie theoretische Konzepte wie Sprache und Gastlichkeit aus dem Elfenbeinturm hinausgelangen und von Sozialreformern und Politikern im täglichen Leben aufgegriffen werden können. Dabei geht es Bhabha um einen sogenannten dritten Raum („third space“), in dem Gegensätze stets neu verhandelt und ausgehandelt werden müssen.

Das Selbst und das Andere in Joseph Conrads "Herz der Finsternis"

Seine Vorstellung eines dritten Raums diskutierte Bhabha dann am Beispiel der Novelle „Herz der Finsternis“ („Heart of Darkness“), mit der Joseph Conrad 1899 Weltruhm erlangte. Eine Geschichte, die sowohl die Opposition zwischen dem Selbst und dem Anderen wie auch die Binarität in ihren vielfältigen Ausprägungen auf eindrucksvolle Weise beschreibt. Marlow, der Erzähler, reist im Auftrag einer belgischen Handelskompanie in den Kongo, wo er die Sinnlosigkeit der Ausbeutung der Schwarzen erlebt und sich dabei seiner Rolle, seiner Identität im Verhältnis zum Anderen immer wieder neu versichern muss.

Marlow verliert die Distanz, nähert sich dem fremden Schwarzen, dem schwarzen Fremden und erkennt ein Stück weißer Wolle an dessen Hals. Indem er sich über die Herkunft dieses Wollstücks Gedanken macht, betritt Marlow, so Bhabha, einen „dritten Raum“, in dem er eine dialogische Nähe zum Anderen aufbaut und den „moment of recognition“ (den Moment der Anerkennung) erlebt. Anerkennung umfasst laut Bhabha sowohl das Unbewusste des Anderen als auch das Unvermögen, den Anderen zu durchdringen. Beides sei unverzichtbare Grundlage für eine neue Ethik der Anerkennung.

Zum Schluss zeigte Bhabha Fotoarbeiten der palästinensisch-amerikanischen Künstlerin Emily Jacir, die mit Hilfe zweier Fotos, die eine ähnliche Situation in New York und in Ramallah zeigen, das Nebeneinander von eigener und fremder Kultur bildlich darstellt und dabei die Grenzen zwischen den Kulturen undefinierbar macht, weil jedes Foto an beiden Orten aufgenommen sein könnte.

Über den Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha

Weltweite Beachtung fand Homi Bhabhas 1994 veröffentlichtes Buch „The Location of Culture“ (Die Verortung der Kultur), in dem er das Verhältnis zwischen den Kolonisierenden und den Kolonisierten analysiert und die Unterschiede innerhalb kultureller Identitäten diskutiert. „Kulturen sind niemals in sich einheitlich, und sie sind auch nie einfach dualistisch in ihrer Beziehung des Selbst zum Anderen“, schreibt Bhabha.

Homi Bhabha wurde 1949 im indischen Mumbai geboren. Er studierte am Elphinstone College der University of Mumbai sowie an der Oxford University, wo er 1990 promovierte. Homi Bhabha ist Anne F. Rothenberg-Professor for the Humanities und Direktor des Humanities Center an der Harvard University. An der Freien Universität Berlin berät er als Mitglied des internationalen Beirats die „Graduate School of North American Studies“ und das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungszentrum „Interweaving Performance Cultures".