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Revolution ist Dichtung

Rüdiger Campe von der Yale University hielt beim Sommerfest des Peter-Szondi-Instituts einen Kleist-Vortrag

17.07.2013

Heinrich von Kleist (1777-1811) soll Kants Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ nicht verkraftet haben.

Heinrich von Kleist (1777-1811) soll Kants Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ nicht verkraftet haben.
Bildquelle: wikipedia

„Kants Krise und Kleists Verfahren“: Der renommierte Literaturwissenschaftler Rüdiger Campe hielt den diesjährigen Peter-Szondi-Gastvortrag an der Freien Universität.

„Kants Krise und Kleists Verfahren“: Der renommierte Literaturwissenschaftler Rüdiger Campe hielt den diesjährigen Peter-Szondi-Gastvortrag an der Freien Universität.
Bildquelle: Leonard Fischl

War es ein Schock, eine Krise, ein Trauma? Nach der Lektüre von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ soll Heinrich von Kleist das Buch an die Wand geworfen haben. So sehr habe ihn die Analyse des Philosophen schockiert. Rüdiger Campe, Literaturwissenschaftsprofessor an der amerikanischen Yale University, hielt anlässlich des Sommerfestes des Peter-Szondi-Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität einen Vortrag, der ein anderes Licht auf die Kant-Krise warf: Nicht die erkenntnistheoretische Revolte habe Kleist schockiert, sondern Kants Versuch, die Philosophie als reine Wissenschaft vom lebensweltlichen Bereich zu trennen. Dies hätte der Auffassung des Dichters zutiefst widersprochen.

„Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“ So lautete Kleists Urteil in einem Brief an Wilhelmine von Zenge nach der Lektüre von Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Kleist soll die Schrift nicht verkraftet haben. Heute hat sich die Forschung von Analysen um Kleists Kant-Krise distanziert, was vor allem an der Vorreiterrolle postmoderner Interpretationen liegt, die sich kritisch zeigen gegenüber Versuchen, das Werk von Schriftstellern durch biografische Ereignisse zu erklären.

Kleists Unmut als Reaktion auf Kants Vorschlag

Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Campe vom Deutsch-Department der Yale University schlug eine andere Lesart vor: Er plädierte dafür, Kleists Unmut als Reaktion auf Kants Vorschlag zu interpretieren, die Philosophie in den Bereich des Wissens zu überführen und vom lebensweltlichen Bereich zu trennen – also Transzendenz und Immanenz voneinander zu scheiden und somit Philosophie als rationale Wissenschaft zu betreiben.

Diese Idee widersprach Kleist zutiefst: Er definierte Philosophie als notwendiges Medium, um die „Vollendung der ganzen Person“ zu vollziehen. So sah er auch die Rolle der Dichtung, die er „als eine Fortsetzung des Denkens mit anderen Mitteln“ verstand.

Kleist‘sche Metapher des „Lichtaufgehens“

Genau um dieses Verständnis von Dichtung ging es im zweiten Teil des Vortrags – um die Rhetorizität jeder Erkenntnis. Das machte Rüdiger Campe, der 1986 an der Universität Freiburg promoviert wurde und 2001 als Professor an die Johns Hopkins University in Baltimore in die Vereinigten Staaten ging, mit der Analyse der Kleist‘schen Metapher des „Lichtaufgehens“ deutlich.

Der Literaturwissenschaftler definierte „Kleists Verfahren“ als weitreichende rhetorische Perspektive auf Wissen und Wahrheit. Ob nun mit Blick auf Isaac Newton, der die Gesetze der Gravitation erfand, oder Galileo Galilei, der die Pendelgesetze entdeckte: Wenn einem Forscher „ein Licht aufgeht“, dann sei das zwar eine „empirische und keine transzendentale Geschichte, aber notwendig eine Geschichte“, sagte Campe.

Er machte damit deutlich, dass Einfälle und Erkenntnisse, auch solche wissenschaftlicher Natur, immer auf einem dichterischen Erfindungsmoment basierten, aus dem eine Narration entspringe. Ein Wissenschaftler übe somit zugleich die Rolle des Erzählers aus.

„Änderung der Deutungsart“

Neue Gesetze der Wissenschaft und Geschichte knüpften an bestehende Lebens- und Denkformen an und formulierten Regeln für  Wissensbereiche, „für die es noch keine Regeln gibt“. Dieses Verfahren sei umstürzlerisch und reaktionär. Campe zeigte das, indem er vorführte, wie Kleist in seiner Prosa Situationen des Umsturzes als rhetorische Ereignisse zwischen Präsens und Präteritum inszeniert.

Damit wollte er klarmachen, dass der Autor durch bewusste sprachliche Unentschlossenheit eine „Änderung der Deutungsart“ vollzieht, die auf poetologischen Prinzipien basiert. Revolutionen sind, so könnte man sagen, nicht nur Ereignisse, die passieren, sondern auch Umstürze, die gedacht, gedichtet und erzählt werden müssen. Sie finden nicht nur in der Geschichte statt, sondern auch und vor allem im Kopf.