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Das Prinzip der Medusa

Der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos war zu Gast an der Freien Universität

27.06.2017

Die Qualle als Sinnbild für dialektisches Erzählen: Ein Text müsse sowohl aus Beweglichkeit...

Die Qualle als Sinnbild für dialektisches Erzählen: Ein Text müsse sowohl aus Beweglichkeit...
Bildquelle: Catarina von Wedemeyer

... als auch aus Versteinerung bestehen, sagt Aris Fioretos.

... als auch aus Versteinerung bestehen, sagt Aris Fioretos.
Bildquelle: Catarina von Wedemeyer

„Der Mittelpunkt der Welt ist überall“, so lautete der Titel des Vortrags, den Aris Fioretos auf Einladung des Centrums Modernes Griechenland (CeMoG) und des Dahlem Humanities Centers (DHC) hielt. Im Mittelpunkt der vierten CeMoG-Lecture stand an diesem Juniabend die Literatur.

Aris Fioretos hat in Stockholm, Paris und New Haven studiert, heute lebt er in Stockholm und Berlin. Der schwedische Autor und Literaturwissenschaftler österreichisch-griechischer Herkunft ist überzeugter Europäer. Darauf verwiesen in ihren Grußworten auch Professorin Claudia Olk, Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften, Charis Desinioti von der Stavros Niarchos Foundation und Professor Miltos Pechlivanos, Direktor des CeMoG und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität. Seine dezidiert europäische Zugehörigkeit entnimmt Aris Fioretos der eigenen Erfahrungsgeschichte: „Ich habe mir nie die Mühe gemacht zu ergründen, was meine Heimat ist. Ich bin einfach eine genetische Korruption: Europäer.“ Dazu passte der Horizont der im Vortrag diskutierten literarischen Texte, deren Autoren von Ovid bis Walter Benjamin reichten.

Aris Fioretos und Claudia Olk, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Anglistik und Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften.

Aris Fioretos und Claudia Olk, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Anglistik und Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften.
Bildquelle: Catarina von Wedemeyer

„Der Mittelpunkt der Welt ist überall“

Der Titel des Vortrags ist ein Zitat von Oskar Loerke: 1909 war ein Text des expressionistischen Dichters über einen Strandspaziergang erschienen, bei dem der Erzähler in einer Pfütze eine Qualle findet, die für einen Moment zum Mittelpunkt der Welt wird. Ausgehend von diesem Beispiel veranschaulichte Fioretos seine literarische Vision einer Welt ohne Hierarchien. Anhand der Qualle, der Medusa, fächerte der Autor die Vielgestaltigkeit der Literaturgeschichte auf, und vermittelte zugleich eigene poetologischen Überzeugungen. So konnten Kenner des Autors im Vortrag Bezüge zu Fioretos‘ Werk entdecken, während Neulinge einen Überblick über dessen zentralen Motive geliefert bekamen.

Fioretos zitierte Ovid, der in den Metamorphosen beschreibt, wie Perseus den Kopf der besiegten Medusa ins Meer legte. Bei der Berührung mit den Schlangenhaaren seien die Wasserstauden zu Stein erstarrt, heißt es in der Mythologie. Bis heute finden sich diese verwandelten Wasserpflanzen auf der ganzen Welt: als Korallen. Das Wasser gilt Fioretos in seiner Metaphorik als Sinnbild für erzählende Prosa, zugleich bedürfe das Erzählen des dialektischen Prinzips der Medusa: Ein Text müsse sowohl aus Beweglichkeit als auch aus Versteinerung bestehen.

Ein Text braucht Verwandlungsmomente

Die Verwandlung, die das tiefere Wesen jeder guten Prosa ausmache, erläuterte Fioretos mit einem Zitat von Walter Benjamin. Dieser beschrieb, wie er sich als Kind von der Verwandlungsfähigkeit von zusammengerollten Strümpfen faszinieren ließ: Anhand der „Stofftasche“, die sich, wenn man ihr den Inhalt zu entnehmen versuche, in eine Socke verwandle, habe er begriffen, dass Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe seien. Fioretos vertrat die These, dass es eben solche Verwandlungsmomente seien, die einem Text Qualität verleihen, während schematische Erzählungen unweigerlich langweilten.

Aris Fioretos beschloss den Vortrag mit einer persönlichen Note. Als Leser bewerte er Literatur über den Gänsehauteffekt, als Autor interessiere ihn etwas Anderes: nämlich die „Vermählung von Perseus und Medusa“, die Kombination der Prinzipien von Leichtigkeit und Starre, von Fluss und Ruhe, von Vorwärtsstreben und Innehalten.