Springe direkt zu Inhalt

Vielfalt mal zwei

Ein Projekt aus der Chemie und eines aus der Romanistik sind mit dem zentralen Lehrpreis 2017 der Freien Universität ausgezeichnet worden

07.03.2018

Was haben Menschen und Staatsquallen gemeinsam? Beide bestehen aus einem komplexen System voneinander verschiedener Spezies, die zum Teil hochspezialisiert sind und unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Das Zusammenwirken dieser Lebewesen ist die Grundlage für die Lebensfähigkeit des gesamten Systems – so wie etwa ein Korallenriff nur durch die dort vorhandene Vielfalt bestehen kann.

Mit diesen überraschenden Vergleichen führte Chemieprofessorin Beate Koksch an diesem Abend in ihr – gemeinsam mit ihrem Fachkollegen Christoph Schalley und einem Team von Studierenden und Doktorandinnen und Doktoranden – konzipiertes Lehrprojekt ein: Bei diesem ersten der beiden diesmal mit dem Zentralen Lehrpreis ausgezeichneten Projekten geht es um die Diversität in Molekülverbünden. Dass ausgerechnet Universitäten kein „Biotop“ seien, sondern es in diesen Einrichtungen offenbar sogar eine „strukturelle Widerständigkeit gegenüber Diversität“ gebe, war die Überlegung, die zu dem zweiten ausgezeichneten Projekt führte. Dort geht es um die Geschichte und Gegenwart akademischer Rhetorik, vorgestellt wurde es von den beiden beteiligten Promovierenden Isabelle Fellner und Oliver Gent. Welche Formen von Diversität gibt es – speziell – an der Freien Universität, und wie kann ihre Förderung zu einer Weiterentwicklung der Universität beitragen? Zu diesen Fragen gab es bei der Preisverleihung und der anschließenden, von Gülay Çaǧlar, Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut, moderierten Podiumsdiskussion vielfältige Antworten.

Verschiedenheit zeigt sich in allen Disziplinen  – auch in der Chemie

Denn dass sich Ideen oftmals abseits vertrauter Pfade und durch ungewohnte Perspektiven herausbilden, zeigte etwa die Entstehung des Chemie-Projekts: „Die Idee hatten wir in einer Kaffeepause“, sagte Beate Koksch – und zwar nachdem sie mit ihrem Kollegen zunächst überlegt habe, ob das Thema des diesjährigen Lehrpreises nicht doch eher „etwas für Geisteswissenschaftler“ sei.

Elena Petersen und Anthony Krause demonstrieren eine oszillierende Reaktion.

Elena Petersen und Anthony Krause demonstrieren eine oszillierende Reaktion.
Bildquelle: Patricia Kalisch

Welche Rolle aber Diversität auch in der Chemie spielt, wie produktiv sich Verschiedenheit in Molekülverbünden auswirken kann, zeigten die Studierenden Elena Petersen und Anthony Krause mit den Promovierenden Hendrik Schröder und Dorian Mikolajczak durch ein farbenfrohes Live-Experiment, in dem eine sogenannte oszillierende Reaktion veranschaulicht wurde: Die in einem großen Kolben gemischte Lösung wechselte aufgrund der Eigenschaften der Moleküle kontinuierlich die Farbe: von blau zu rot und wieder zurück. Neben ebenfalls vielversprechenden Versuchen mit den Namen „springende Shampoos“ oder „Paranuss-Effekt“ soll dieses Experiment auch im Seminar durchgeführt werden. Dann sollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch selbst ähnliche Schauexperimente entwickeln, die wiederum bei der Langen Nacht der Wissenschaften im Juni gezeigt und über Videos im Internet zugänglich gemacht werden sollen.

Sprechen Sie akademisch?

Das zweite preisgekrönte Lehrprojekt Universität verstehen: Die Rhetorik(en) der deutschen akademischen Welt – gemeinsam konzipiert von Isabelle Fellner, Oliver Gent, Angie Martiens und Professorin Anita Traninger – beschäftigt sich aus rhetorischer Perspektive mit akademischer Diversität. Verschiedenheit anzuerkennen, zu würdigen und angemessen zu fördern, setze zunächst das Bewusstsein über vorhandene Strukturen und Hürden voraus, erläuterten Isabelle Fellner und Oliver Gent. Diese manifestierten sich im sogenannten akademischen Habitus – einem Bündel von Rede- und Verhaltensweisen, die Kinder aus Akademikerfamilien oft wie selbstverständlich mitbekämen, während sie Studierenden mit bildungsfernem Hintergrund beim Eintritt in die Universität fremd seien. Das könne die studentische Teilnahme und Teilhabe am universitären Geschehen, von der Seminardiskussion bis zur Textproduktion, erschweren.

Isabelle Fellner und Oliver Gent stellen das literaturwissenschaftliche Preisprojekt vor.

Isabelle Fellner und Oliver Gent stellen das literaturwissenschaftliche Preisprojekt vor.
Bildquelle: Patricia Kalisch

In drei unterschiedlichen Veranstaltungsformen – einer historisch und theoretisch ausgerichteten Vorlesung, einem Projektseminar und einem studentisch geleiteten Tutorium – sollen zum einen die historischen Wurzeln universitärer Strukturen aufgeschlüsselt, zum anderen in praxisorientierten Lehreinheiten ein souveräner Umgang mit komplexen Anforderungen erarbeitet werden.

Welche Strukturen verhindern Diversität, welche machen sie möglich?

In der auf die Preisverleihung folgenden Podiumsdiskussion Gegen den Mainstream: Diversitätsförderung in Forschung und Lehre, die die Politikwissenschaftlerin Professorin Gülay Çaǧlar leitete, stand das allgemeine Verhältnis zu Diversität in der geistes- und naturwissenschaftlichen Forschung und Lehre im Fokus. Denn dass die Freie Universität Vielfalt fördern möchte, hatte auch Universitätspräsident Peter-André Alt in seiner Begrüßung betont. Doch wie lässt sich das umsetzen? Moderatorin Gülay Çaǧlar fragte in ihrer Einführung kritisch, ob nicht Diversitätsförderung bereits Mainstream sei.

Auf dem Podium: Mathematikprof. Dr. Günter M. Ziegler, Chemieprof. Dr. Christoph Schalley, Politikwissenschaftsprof. Dr. Gülay Çaǧlar, (verdeckt) Angie Martiens und (ebenfalls verdeckt) Romanistikprof. Dr. Anita Traninger.

Auf dem Podium: Mathematikprof. Dr. Günter M. Ziegler, Chemieprof. Dr. Christoph Schalley, Politikwissenschaftsprof. Dr. Gülay Çaǧlar, (verdeckt) Angie Martiens und (ebenfalls verdeckt) Romanistikprof. Dr. Anita Traninger.
Bildquelle: Patricia Kalisch

„Wir setzen zu oft gleich bei der Therapie an und vernachlässigen dabei die Diagnose,“ sagte Mathematikprofessor Günter M. Ziegler. Man müsse erst einmal schauen, was – trotz des Wunsches nach mehr Diversität – noch nicht gut laufe. An dieser Stelle setze auch ihr Projekt an, sagte die Literaturwissenschaftlerin Anita Traninger: Der gegenwärtig verbreitete „Talentfetischismus“ – also die allgegenwärtige Rede von den „besten Köpfen“ – blende die Mechanismen und Ausschlussverfahren aus, die solche vermeintlichen Begabungen allererst hervorbringen. Diese Mechanismen transparent zu machen und die Rhetoriken der Universität zu entmystifizieren, sei die Voraussetzung für die Ermöglichung von Diversität.

Diversitätsförderung als Prozess

„Manchmal beginnt die Auseinandersetzung mit Diversität mit einem Perspektivwechsel“, sagte Chemieprofessor und Lehrpreisträger Christoph Schalley: Ihn habe überrascht, was sein Fach, eine von dem Thema scheinbar gar nicht berührte Naturwissenschaft, zu Fragen der Diversität beitragen könne. Dass Diversitätsförderung als Prozess zu begreifen sei, hob Lehrpreisträgerin Angie Martiens hervor: „Diversitätsförderung ist eine genuin unabgeschlossene Arbeit, weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stets verändern und mit ihnen das, was Diversity-Förderung schon – bzw. gerade noch nicht – berücksichtigt.“ Man müsse seine eigenen Praxen und Annahmen daher immer wieder aufs Neue in Frage stellen und sich auf die stetige Neuverhandlung einlassen.