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Der Kopftuchstreit im europäischen Vergleich

Wissenschaftlerinnen der Freien Universität untersuchen Debatten und Regelungen in Deutschland

17.03.2009

Kopfbedeckung und Symbol: Religiöse Überzeugung? Unterdrückung der Frau? Abgrenzung zur westlichen Gesellschaft?

Kopfbedeckung und Symbol: Religiöse Überzeugung? Unterdrückung der Frau? Abgrenzung zur westlichen Gesellschaft?
Bildquelle: Sabine Berghahn

Im Rahmen des EU-Forschungsprojektes „VEIL – Values, Equality & Differences in Liberal Democracies“ beschäftigten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht Ländern mit gesellschaftlichen Kontroversen und gesetzlichen Regelungen rund um Kopf- und Körperbedeckungen von muslimischen Frauen. Die Problematik in Deutschland untersuchten Sabine Berghahn vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität und Petra Rostock.

Rund 3,3 Millionen Muslime leben in Deutschland, darunter 1,6 Millionen Frauen. Viele von ihnen tragen ein Kopftuch, auch an ihrem Arbeits- oder Ausbildungsplatz, selten aber sichtbar in  Positionen des öffentlichen Dienstes. Seit Jahren entzündet sich der heftig geführte, politische und gesellschaftliche Diskurs um dieses Kleidungsstück an der Frage seiner Symbolik: Drückt es religiöse Überzeugung aus? Die Unterdrückung der Frau? Die Abgrenzung zur westlichen Gesellschaft? Der Kopftuchkonflikt in Deutschland begann 1998 mit dem Fall Fereshta Ludins. Ihr wurde wegen ihres Kopftuches eine Stelle als Lehrerin verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht musste entscheiden und fand einen widersprüchlichen Kompromiss. Die Mehrheit der Richter sagte, dass es ohne gesetzliches Verbot keine rechtliche Basis für ein Kopftuchverbot gebe, die einzelnen Bundesländer aber ein Verbot regeln dürften, wenn sie in religiösen Zeichen eine „abstrakte“ Gefahr für die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden sähen.

Verbotsgesetze in der Hälfte der 16 deutschen Länder

In der Folge erließen acht Bundesländer Verbotsgesetze, bei denen ein „christlich-abendländisches“  Modell in fünf Bundesländern einem strikt säkularen in drei Ländern gegenübersteht. Während das säkulare Modell das Tragen religiöser Kleidung und Symbole generell verbietet, lässt das erstgenannte Modell christliche und jüdische Symbole zu. Beide Modelle besitzen rechtliches und politisches Konfliktpotenzial, lassen sie doch die garantierte Religionsfreiheit außer Acht und verletzen – unmittelbar oder mittelbar – das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Gerichte haben daher den Ländern des christlich-abendländischen Modells trotz der Privilegierung des Christen- und Judentums eine strenge Gleichbehandlung aller Religionen verordnet. Dr. Sabine Berghahn, Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, urteilt: „So dient die Proklamation von strikter Säkularität, von staatlicher Neutralität als Alibi für die fehlende Internalisierung pluralistischer Liberalität und Toleranz. Denn die legitime Vielfalt der Einwanderungsgesellschaft bleibt im säkularen Modell genauso außen vor wie im christlich-abendländischen, das sich ausschließlich gegen das muslimische Kopftuch richtet.“ Die acht anderen Bundesländer haben dagegen keine Verbote erlassen und bleiben bei der Tradition der „offenen“ Neutralität, die Bekundungen der eigenen Religion auch bei Lehrkräften gestattet.

Im Rahmen des „VEIL“-Projektes wurde neben Deutschland auch die Situation in Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und der Türkei untersucht. Der europäische Standard besteht aus einer weitgehenden rechtlichen Duldung des Kopftuchtragens in Schulen, Universitäten und im öffentlichen Dienst. In der Privatwirtschaft muss ohnehin das EU-weite Diskriminierungsverbot beachtet werden. Abweichungen vom Standard stellen allerdings die beiden Staaten mit säkularistischer und republikanischer Tradition, Frankreich und die Türkei, dar. Sie verbieten religiöse Elemente im öffentlichen Raum kategorisch, namentlich in Schulen, in der Türkei auch in Universitäten.

Weitere Informationen

Zum Thema erscheint im Sommer 2009 im transcript Verlag der von Sabine Berghahn und Petra Rostock (unter Mitarbeit von Alexander Nöhring) herausgegebene Sammelband „Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz“.