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Stadt, Land, Sprache

An der Freien Universität findet die weltweit größte soziolinguistische Tagung statt

20.08.2012

Großstadt mit komplexer Mehrsprachigkeit: Die Kommunikation in der brasilianischen Metropole São Paulo ist geprägt von portugiesischen, italienischen, deutschen, libanesischen und japanischen Einflüssen.

Großstadt mit komplexer Mehrsprachigkeit: Die Kommunikation in der brasilianischen Metropole São Paulo ist geprägt von portugiesischen, italienischen, deutschen, libanesischen und japanischen Einflüssen.
Bildquelle: Jefferson Pancieri

Was ist Jugendsprache? Wie entsteht Kiezdeutsch? Wie beeinflussten sich Italienisch, Japanisch und Portugiesisch – Sprachen, die in São Paulo nebeneinander gesprochen wurden? Fragen wie diese sollen vom 21. bis 24. August bei der weltweit größten soziolinguistischen Tagung an der Freien Universität diskutiert werden. Campus.leben sprach mit dem Romanistik-Professor Uli Reich über die Entwicklung urbaner Sprachen. Gemeinsam mit dem Niederlandisten Professor Matthias Hüning hat er das Symposium "Language and the city" organisiert, zu dem rund 1.100 Teilnehmer von allen Kontinenten erwartet werden.

Herr Professor Reich, welche Unterschiede bestehen hinsichtlich der Sprachentwicklung in Städten und auf dem Land?

In großen Städten begegnen wir komplexer Mehrsprachigkeit. Das kann man besonders gut in Berlin beobachten: Hier wird Deutsch, Türkisch, Arabisch oder auch Bayerisch gesprochen. Durch diese Mehrsprachigkeit entwickeln sich sprachliche Variationen und sprachlicher Wandel viel schneller. Es werden viele Sprachen gleichzeitig gesprochen, die auf dem Land nur getrennt voneinander existieren.

Womit hängt das zusammen?

Urbane Gesellschaften entwickeln eine sehr starke soziale Binnendifferenzierung. Es gibt viele unterschiedliche soziale Gruppen, die sich voneinander abgrenzen wollen. Das geschieht beispielsweise durch allgemeines Verhalten und durch Mode: Ich gebe meine Zugehörigkeit zu den Hip Hoppern zu erkennen, indem ich meine Hosen sehr tief trage. Aber eben auch durch Sprache: Eine bestimmte Art sich auszudrücken, markiert die soziale Zugehörigkeit. Hip Hopper begrüßen einander beispielsweise mit „Respect“.

Außerhalb dieser Gruppe würde das kaum jemand verstehen. Das betrifft vor allem Jugendliche, die stärker als andere Altersgruppen auf der Suche nach der eigenen Identität sind, und diese Identität durch starke Zeichen markieren. Trotzdem kommt ein solches Abgrenzungsverhalten auch in anderen Altersstufen und sozialen Gruppen vor: So verwenden Universitätsprofessoren oder Freunde der italienischen Oper sprachliche Codes, um einander zu erkennen. Sprachliche Vielfalt in der Großstadt betrifft die ganze Gesellschaft.

Wie sieht die Situation auf dem Land aus?

Auf dem Land kann man ähnliche Entwicklungen beobachten, nur eben in kleinerem Umfang. Durch moderne Kommunikationsmittel werden außerdem zunehmend urbane Strukturen auf das Land getragen. Ich kann in einem kleinen Nest in der Eifel wohnen und dennoch mit Communities auf der ganzen Welt kommunizieren. Man kann beobachten, dass im Web 2.0, in Blogs und in anderen Online-Foren spezifische Merkmale gesprochener Sprache in schriftlich fixierter Form auftauchen.

Wenn also urbane Sprache einerseits und ländliche Sprache andererseits gegenübergestellt werden, dann ist das ein bisschen idealisiert. Denn es gibt urbane Menschen, die auf dem Land wohnen, und es gibt Menschen in der Stadt, die sich wie Landbewohner verhalten und nur mit zwei oder drei Leuten kommunizieren. Trotzdem gibt es die Tendenz, dass sprachliche Veränderungen auf dem Land später, indirekter und reduzierter ankommen. In der Stadt herrscht ein viel höherer Druck zur sozialen Binnendifferenzierung. Bei rund 3,5 Millionen Einwohnern in Berlin sind soziale Gruppen und sprachliche Codes notwendig, um sich wiederzufinden.

Schlagen sich sprachliche Variationen in der Standardsprache nieder?

Ja. Das lässt sich am Fall von Paris sehr gut nachvollziehen. Das moderne, gesprochene Pariser Französisch, das Standard-Französisch, hat sich ursprünglich aus Dialekten entwickelt, die von Migranten ab 1350 nach Paris gebracht wurden. Diese Dialekte wurden zunächst verspottet, was sich in historischen Theaterstücken nachlesen lässt: Dort finden sich Ausdrücke, die zum heutigen Standard-Französisch gehören, dort aber noch Bezeichnungen etwa für Bauerntölpel sind. Sprachwandel entsteht aus der Gesellschaft heraus und wird weniger von oben beschlossen.

Ein besonderer Schwerpunkt der Tagung liegt auf China und Brasilien. Warum?

Wir wollten den Fokus auf die schnell wachsenden Regionen in der Welt legen. Die Konferenz war früher einmal ein europäisches, englisches und nordamerikanisches Projekt. Das wird der Realität nicht mehr gerecht. Wir haben die Themenfelder geöffnet und unter anderem Wissenschaftler auch aus China und Brasilien eingeladen. In den großen brasilianischen Metropolen fasziniert uns die komplexe Migrationsgeschichte, die Sprachen aller Kontinente zusammengeführt hat.

In Asien vollzieht sich die Urbanisierung so schnell, dass man kaum mehr mitkommt. Man kennt das ja: Man hört den Namen einer chinesischen Stadt, den man vorher noch nie gehört hat. Dann schaut man im Atlas nach und stellt fest, dass es sich um eine Stadt mit mehr als zehn Millionen Einwohnern handelt. Das ist auch für die Soziolinguistik eine unheimlich spannende Entwicklung.

Die Fragen stellte Leonard Fischl.