Springe direkt zu Inhalt

Weiblich, männlich, Wissenschaft

#4genderstudies: Heute findet der bundesweite „Wissenschaftstag Geschlechterforschung“ statt / campus.leben-Interview mit Professorin Margreth Lünenborg, Leiterin des Margherita-von-Brentano-Zentrums der Freien Universität

14.12.2017

Beim Women’s March in Washington am 21. Januar 2017 protestierte etwa eine halbe Million Menschen für Frauen- und Menschrechte. Der heutige Wissenschaftstag Geschlechterforschung will zeigen, in welchen Fächern Geschlechterforschung betrieben wird.

Beim Women’s March in Washington am 21. Januar 2017 protestierte etwa eine halbe Million Menschen für Frauen- und Menschrechte. Der heutige Wissenschaftstag Geschlechterforschung will zeigen, in welchen Fächern Geschlechterforschung betrieben wird.
Bildquelle: bones64, pixabay.com / cc0

Gestalten Lehrerinnen ihren Mathe-Unterricht anders als ihre männlichen Kollegen? Warum müssen Medikamente für Frauen anders dosiert werden als für Männer? Welche feministischen Bewegungen gibt es in Lateinamerika? Leiden Frauen stärker unter Naturkatastrophen als Männer? Unter welchen Umständen durften Transvestiten in den zwanziger Jahren mit polizeilicher Erlaubnis in der Öffentlichkeit Kleider des anderen Geschlechts tragen? Wie verändern aktuelle Migrationsprozesse Geschlechterverhältnisse in Europa und den Herkunftsgesellschaften? Geschlechterforschung – das zeigen diese wenigen Beispiele aus der Medizin, den Regionalstudien, der Mathematikdidaktik, der Politikwissenschaft, der Geschichte und den Kommunikationswissenschaften – wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen betrieben. Was ein bundesweiter Wissenschaftstag Geschlechterforschung leisten kann, warum das Geschlecht in der Wissenschaft eine relevante Rolle spielt, und wie die Ergebnisse der Geschlechterforschung bei der Lösung gesellschaftsrelevanter Probleme helfen können, erläutert Margreth Lünenborg. Die Journalistik-Professorin leitet das Margherita-von-Brentano-Zentrum – eine Einrichtung der Freien Universität, die Projekte der Geschlechterforschung bündelt, Netzwerkbildung unterstützt sowie forschungsrelevante Daten auf elektronischen Plattformen zur Verfügung stellt.

Frau Professorin Lünenborg, warum beteiligt sich die Freie Universität am Wissenschaftstag Geschlechterforschung?

Wir wollen zeigen, welche Rolle das Geschlecht in der Wissenschaft spielt: An der Freien Universität arbeiten derzeit 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in etwa 200 Forschungsprojekten zu Themen der Geschlechterforschung; 70 von ihnen sind Professorinnen und Professoren. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Einfluss des Geschlechts hat an der Freien Universität eine schon 40-jährige Tradition. In den sechziger und siebziger Jahren wurde die Frauenbewegung auch in der Wissenschaft sichtbar: Es wurde untersucht, wie Wissen und Wissensproduktion durch das Geschlecht geprägt werden. Öffentlich sichtbar wurde das mit der Berliner Sommeruniversität für Frauen, die 1976 erstmals stattfand. Dort wuchs das Bewusstsein dafür, wie stark die Organisation Universität und damit Wissensproduktion historisch männlich geprägt sind.

Wo wird heute an der Freien Universität zum Thema Geschlecht geforscht?

Die Geschlechterforschung ist bei uns kein eigenes Fach, sondern in den unterschiedlichen Disziplinen angesiedelt: zum Beispiel in den Sprach- und Kulturwissenschaften, den Sozialwissenschaften, aber auch in der Mathematik und den Naturwissenschaften. Darüber hinaus gibt es drei Professuren mit der expliziten Bestimmung für Geschlechterforschung – in der Literaturwissenschaft wird sie besetzt von Anne Fleig, in der Politikwissenschaft von Gülay Çağlar und in der Philosophie von Hilge Landweer. Demnächst wird es eine weitere in der Wirtschaftswissenschaft geben. Außerdem gibt es seit fünf Jahren die „Internationale Gastprofessur für Geschlechterforschung“, auf die in jedem Wintersemester neu berufen wird, zurzeit hat sie Elisabeth Kelan inne.

Margreth Lünenborg forscht als Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Sie leitet außerdem das Margherita-von-Brentano-Zentrum der Freien Universität Berlin.

Margreth Lünenborg forscht als Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Sie leitet außerdem das Margherita-von-Brentano-Zentrum der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Was hat die Öffentlichkeit von der Geschlechterforschung?

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel aus meiner Forschung. Mich interessiert, wie sich durch Flucht und Migration Geschlechterrollen verändern – bei den Geflüchteten ebenso wie hier in Europa. Dabei betrachte ich insbesondere die Rolle der Medien in diesen Wandlungsprozessen. Frauen, die alleine oder mit ihren Kindern migrieren, werden durch diesen Weg zwangsläufig selbstständig und autonom. Tradierte Geschlechterrollen kommen also in Bewegung. Was bedeutet es dann, wenn Medienbilder sie hier zuvörderst als Opfer sichtbar machen? Wie wandeln sich Geschlechterverhältnisse, wenn mittels Smartphone nicht nur der Prozess der Flucht organisiert wird, sondern anschließend das Netzwerk der Kontakte durch die Sozialen Medien in der Heimat ebenso wie am Ankunftsort organisiert wird? Wie navigieren queere Geflüchtete nach Europa, um hier Sicherheit zu finden? Auf diese Weisen entstehen neue Formen der Intimität und der Sorgebeziehungen on distance. Aber natürlich spielen auch sehr konkrete Fragen der Versorgung von Geflüchteten für die Geschlechterforschung eine zentrale Rolle. Studierende der Sozial- und Kulturanthropologie haben in Berliner Notunterkünften Frauen befragt und durch die so erhobenen Informationen ein erschreckendes Maß an fehlender Sicherheit, an sexueller Bedrohung und Gewalt sichtbar gemacht.

Die Kollegin Gülay Çağlar, beschäftigt sich als Politikwissenschaftlerin am Otto-Suhr-Institut mit feministischen Perspektiven auf gesellschaftliche Naturverhältnisse – insbesondere Klima und Ernährung. Das alltägliche Essen ist ebenso banal wie lebensnotwendig und zugleich eine der wichtigsten sozialen Praktiken, über die Identitäten geprägt, soziale Zugehörigkeit definiert und Ausschlüsse (re-)produziert werden. Was wir essen, wie wir essen und in welcher Gesellschaft wir essen, steht im engen Zusammenhang mit dem eigenen Selbstverständnis und der Zugehörigkeit zu beispielsweise sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen. Gülay Çağlars Untersuchungen zum globalen Ernährungssystem machen die Strukturen fundamentaler Ungleichheit im internationalen Zusammenhang sichtbar.

Die koreanische Politikwissenschaftlerin Pilwha Chang, die im vergangenen Wintersemester die internationale Gastprofessur für Geschlechterforschung der Freien Universität innehatte, erklärt, warum Zweidrittel der Opfer der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean Frauen waren: Wegen der traditionellen Aufgabenverteilung sind Frauen im ländlichen asiatischen Raum eher ans Haus gebunden, wo sie von der Flutwelle überrascht wurden, während die Männer, die draußen auf dem Meer fischten, dort in Sicherheit waren. Außerdem sind Mädchen in Asien häufig weniger geübt im Klettern und Rennen als Jungs – weshalb sich Frauen weniger gut retten konnten als Männer.

Shirin Amir-Moazami, Islamwissenschaftsprofessorin an der Freien Universität, untersucht, wie Geschlechterrollen und -verhältnisse in islamischen Diskurstraditionen entworfen und praktiziert werden. Und sie fragt danach, wie über Islam und Geschlecht in öffentlichen, politischen, rechtlichen und akademischen Debatten in Europa gesprochen wird.

Warum polarisiert das Thema Gender und Geschlecht? Es hat den Anschein, dass Geschlechterforschung von manchen weniger ernst genommen wird als Forschung in anderen Fächern – woran liegt das?

Geschlecht ist etwas vermeintlich Selbstverständliches, scheinbar Natürliches. Darüber bedarf es nach Ansicht der Öffentlichkeit keines wissenschaftlich erhobenen Wissens. Nun ist es aber die Aufgabe von Forschung, das, was vermeintlich selbstverständlich erscheint, auf seine Beschaffenheit zu untersuchen. Das führt zu Irritation. Wenn Geschlechterforschung dann noch in Frage stellt, ob es ein natürliches So-Sein von Männern und Frauen überhaupt gibt – sich also mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht auseinandersetzt –, irritiert das ebenfalls.

Und dann gibt es noch eine ideologisch basierte Opposition zur Geschlechterforschung: Sie kommt von Vertreterinnen und Vertretern bestimmter Kirchen- oder Politikkreise, die ein konservatives Gesellschafts- und Familienverständnis vertreten. Wir erleben derzeit ja rechtspopulistische Akteure, die eine rechtskonservative Reorganisation von Gesellschaft verfolgen.

Was kann der bundesweite Wissenschaftstag Geschlechterforschung leisten?

Wir können als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigen, wozu wir forschen und inwiefern das – gerade in diesen Zeiten großer Unsicherheit und grundlegender Umbrüche – relevant ist. Die Vielfalt von Geschlechterforschung sichtbar zu machen, heißt auch, für die Wissenschaftsfreiheit einzutreten. Denn pauschale Angriffe auf die Geschlechterforschung sind Angriffe auf die Freiheit der Wissenschaft. Die Projekte und Veröffentlichungen, die am 18. Dezember laufen, werden nicht zentral koordiniert, sondern von den Beteiligten selbst betreut. Eine meiner Mitarbeiterinnen, Shari Adlung, hat beispielsweise zum Islambild in den deutschen Medien gearbeitet: Immer wieder wird die kopftuchtragende Frau als stereotyper Marker für Andersartigkeit im Journalismus verwandt. Shari Adlung wird zum Wissenschaftstag mit Studierenden in eine Weddinger Schule gehen und dort mit Schülerinnen und Schülern Videos machen, in denen die Jugendlichen ihre Wahrnehmung dieser Medienbilder darstellen.

Unsere Devise für den 18. Dezember lautet: vielfältig, vielstimmig und unterschiedlich, analog und digital.

Die Fragen stellte Christine Boldt

Weitere Informationen

Margherita-von-Brentano-Zentrum

Das Margherita-von-Brentano-Zentrum für Geschlechterforschung ist eine interdisziplinär und international ausgerichtete Zentraleinrichtung der Freien Universität Berlin. Es widmet sich – seiner Namensgeberin Margherita von Brentano verpflichtet – der Initiierung und Unterstützung von (internationalen) Kooperationsprojekten in Forschung und Lehre, in denen das inter- und trans-disziplinäre, wissenschaftskritische und selbstreflexive Potenzial der Geschlechterforschung genutzt und weiterentwickelt wird. Die Datenbank Geschlechterforschung versammelt laufende Forschungsprojekte.

Wissen aus der interdisziplinär betriebenen Geschlechterforschung öffentlich zugänglich zu machen, gehört zu den wichtigen Aufgaben des Margherita-von-Brentano-Zentrums. Erst kürzlich wurde das „Gender-Open-Repositorium“ freigeschaltet, eine elektronische Plattform, über die Wissensbestände frei zugänglich gemacht und nachhaltig gesichert werden.

Alle Beiträge zum Wissenschaftstag Geschlechterforschung werden unter dem Hashtag #4genderstudies gesammelt.

In einem aktuellen Expertendienst finden Sie Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner der Freien Universität, die zu Themen der Geschlechterforschung arbeiten.