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„Wissen wandelt sich nicht erst seit der Moderne“

Ein Interview mit Anne Eusterschulte und Andrew James Johnston von der Freien Universität Berlin zum Abschluss des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“

26.06.2024

Professorin Anne Eusterschulte bei der Abschlusstagung im Juni 2024. Sie zeigt eine Faksimile-Ausgabe des Himmelsatlas Harmonia Macrocosmia des Astronomen, Mathematikers und Kartografen Andreas Cellarius (um 1596–1665).

Professorin Anne Eusterschulte bei der Abschlusstagung im Juni 2024. Sie zeigt eine Faksimile-Ausgabe des Himmelsatlas Harmonia Macrocosmia des Astronomen, Mathematikers und Kartografen Andreas Cellarius (um 1596–1665).
Bildquelle: Christina Stivali Turboturbo

Nach Ende der Regelförderung wird der Sonderforschungsbereich (SFB) 980 „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität in diesem Jahr beendet. Zwölf Jahre lang untersuchte dort ein interdisziplinäres Team den Wandel von Wissen in vormodernen Kulturen. Anne Eusterschulte, Professorin für Geschichte der Philosophie und Sprecherin des SFB, und Andrew James Johnston, Professor für Englische Philologie und stellvertretender Sprecher werfen einen Blick zurück.

Frau Professorin Eusterschulte, Herr Professor Johnston, welche Idee stand hinter dem Sonderforschungsbereich „Episteme in Bewegung“?

Andrew James Johnston: Unsere Frage war: Wie hat sich Wissen in vormodernen Kulturen verändert? Wenn man historische Texte aus vormodernen Zeiten, also etwa bis zum Jahr 1750, liest, wird Wissen meist als etwas Stabiles verstanden. Es geht vor allem darum, altes Wissen zu überliefern und vor dem Vergessen zu bewahren. Oftmals wurde diese Selbstbeschreibung auch von der Wissenschaftsgeschichte übernommen. Unsere These war jedoch, dass sich auch vormodernes Wissen beständig verändert hat – häufig jedoch auf eine Art und Weise, die es für uns schwierig macht, diesen Wandel zu erkennen.

Anne Eusterschulte: Genau. In der westlichen Geschichte gibt es diese Idee eines großen Umbruchs mit Beginn der Moderne. Auch die Wissenschaftsgeschichte beteiligte sich in der Vergangenheit oftmals an einem solchen Narrativ der angeblichen europäischen Überlegenheit. Als hätte es vor Beginn der westlichen Wissenschaft nur Stillstand gegeben! Eine derartige Vorstellung ist nicht haltbar, wenn man sich die komplexen Bewegungen des Wissens in den vielfältigen vormodernen Kulturen ansieht – wie wir es im Rahmen unseres Sonderforschungsbereichs zwölf Jahre lang getan haben.

Welche Veränderungen haben Sie beobachtet?

Anne Eusterschulte: Nehmen wir zum Beispiel die Manuskript- und Buchkulturen vor Erfindung des Buchdrucks um 1440. Davor musste jeder Text von Schreibern manuell kopiert werden. Dabei wurde seit jeher nicht einfach nur abgeschrieben, sondern ergänzt und verändert. Verschiedene Schreiber fügten Textteile hinzu oder strichen andere heraus. Oft verbindet sich dies mit Kommentaren und Glossen. Diese Veränderung von Texten würde man nicht als Wissenschaft nach rationalistischen Maßstäben betrachten, aber sie bringt oftmals einen tiefgreifenden Wandel mit sich. Es handelt sich um Formen, vermittels derer Wissen weitergegeben und in der Weitergabe, dem Transfer, beständig verändert wurde. Solche Bewegungen haben wir uns in vielen verschiedenen Kulturen angesehen, von Altägypten bis Korea.

Dr. Andrew James Johnston, Professor für Englische Philologie und stellvertretender Sprecher des Sonderforschungsbereichs.

Dr. Andrew James Johnston, Professor für Englische Philologie und stellvertretender Sprecher des Sonderforschungsbereichs.
Bildquelle: Christina Stivali Turboturbo

Andrew James Johnston: Für mich als Literaturwissenschaftler war es besonders interessant, mich damit auseinanderzusetzen, wie Wissen früher in der Literatur weitergegeben wurde. Unsere Kollegin, die Altgermanistin Jutta Eming, hat dies etwa anhand von Darstellungen von Monstern und Zauberei in mittelalterlichen Erzählungen getan. Man mag denken, dass Darstellungen von Menschen mit Vogelköpfen und andere Fabelwesen nichts mit Wissen in unserem Sinne zu tun hat. Aber wenn man genauer hinsieht, beginnt man zu verstehen, dass Menschen im Mittelalter entlang solcher Figuren komplexe Fragen verhandelt haben. Etwa über die Frage, wie man damit umgehen kann, wenn die Welt plötzlich ganz anders aussieht und man mit Fremdheit und Andersartigkeit konfrontiert ist. Das sind Probleme, die uns auch heute begleiten, wo sich die Welt rasant verändert.

Welche Erkenntnisse haben Sie besonders überrascht?

Andrew James Johnston: Im Laufe unserer Forschung wurde die materielle Gebundenheit von Wissen für uns immer wichtiger. Wissen schwirrt nicht im luftleeren Raum umher, sondern ist an bestimmte Medien gebunden, in unterschiedlichen Formaten. Es macht einen Unterschied, ob eine Textzeile auf Papier oder Pergament geschrieben, eine Tontafel graviert oder ein Seidentuch gewebt wird. Hinzu kommen künstlerische Formen des Wissens, die gar nicht sprachlich verfasst wurden, sondern beispielsweise in Gemälden zum Ausdruck kommen. Wir haben gemerkt, dass sich Wissen auch mit seiner Darstellungsweise verändert. Die Materialität von Trägermedien eröffnet Möglichkeiten und setzt Grenzen. Darüber haben wir schon zu Beginn unserer Arbeit nachgedacht, konnten uns das Ausmaß dieser Fragen aber noch nicht vorstellen.

Anne Eusterschulte: Eng verknüpft mit der Frage von Materialität ist die Frage von Zeitlichkeit. Ein verbreitetes Vorurteil über vormoderne Kulturen ist die Annahme, dass diese eine sehr eingeschränkte oder gar keine Vorstellung von Geschichte hätten. Tatsächlich ist die Vorstellung, dass Zeit linear verläuft, also gewissermaßen wie ein Pfeil von der Vergangenheit in die Zukunft, eine moderne Vorstellung. Es lässt sich dagegen beobachten, dass Vorstellungen von Zeit in vormodernen Kulturen viel komplexer sind. Oftmals bindet sich das Zeitverständnis an den Umgang mit Materialien. Ob etwa eine Inschrift in Marmor eingemeißelt wird, wodurch sie eine gefühlte Ewigkeit bewahrt werden kann, oder Texte auf einem kurzlebigen Stück Birkenrinde vermittelt werden, macht einen Unterschied für die Tradierung von Wissen, für seine Reichweite und Beständigkeit. Am Umgang mit Materialien und den jeweiligen Medien zeigt sich eine Dimension eines differenzierten Verständnisses von Zeitlichkeiten in vormodernen Kulturen.

Zum Abschluss des Sonderforschungsbereichs gab es eine Konferenz. Was stand auf dem Programm?

Anne Eusterschulte: Unsere Abschlusstagung stand vor allem im Zeichen unseres Logbuchs Wissensgeschichte, der Abschlusspublikation. Dort haben wir herausragende Fallstudien unserer Forschungsarbeit versammelt. Herausgegeben wird es in Form eines Logbuchs, also einem Aufschreibemedium, vergleichbar einem Schiffstagebuch, das auf der Fahrt mitgeführt wird. Wir haben versucht, mit Strukturen zu arbeiten, die auch viele der überlieferten vormodernen Texte aufweisen, um Wissen zu ordnen und darzustellen. Es gibt im Logbuch beispielsweise Kolumnen, Glossen und Marginalien sowie Kommentare. Wir hoffen, dass man so auch in der unmittelbaren Interaktion mit unserem Buch etwas über Prinzipien erfahren kann, wie vormoderne Kulturen Wissen strukturiert und vermittelt haben.

Andrew James Johnston: Natürlich haben wir uns auch der Frage gewidmet, wie es weitergehen kann. Wir haben bereits erste Ideen für neue Projekte – vor allem in Hinblick auf die gerade angesprochenen Themen von Materialität und Zeitlichkeit. Außerdem wird unsere erfolgreiche Podcast-Serie „Hinter den Dingen“ noch eine Weile weiterlaufen. Dort beleuchten wir die Hintergründe historischer Gegenstände aus unserer Forschungsarbeit. Die Premiere der aktuellen Folge König Offas Münze, in der es um eine Silbermünze aus dem 8. Jahrhundert geht, haben wir gerade im Bode Museum gefeiert.

Die Fragen stellte Dennis Yücel