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Pionierin und Dozentin der ersten Stunde

Zum Tod der Romanistik-Professorin Waltraut Voigt, die von 1948 bis in die 1990er Jahre an der Freien Universität unterrichtet hat

24.03.2011

Professorin Waltraut Voigt im November 2008 in ihrer Charlottenburger Wohnung.

Professorin Waltraut Voigt im November 2008 in ihrer Charlottenburger Wohnung.
Bildquelle: Stephan Töpper

Waltraut Voigt gehörte zu den ersten Dozenten, die an der im Dezember 1948 gegründeten Freien Universität Berlin gelehrt haben. Am 13. Februar nun ist die gebürtige Swinemünderin in Berlin kurz vor ihrem 103. Geburtstag gestorben. Wir erinnern an Waltraut Voigt mit einem Porträt, das unter der Überschrift "Lehrerin aus Passion" in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität im November 2008 über die damals Hundertjährige abgedruckt worden ist.

„Wenn ich gefragt werde, wie ich an die Universität gekommen bin, sage ich immer: von der Straße“, erzählt Waltraut Voigt. Die heute 100-Jährige war Dozentin an der Freien Universität vom ersten Tag an. Bis heute begleitet sie die Hochschule mit Interesse. Die Straße entlang radelte sie an einem Freitag Ende Oktober des Jahres 1948 in die Boltzmannstraße 3 in Berlin-Dahlem – zum ersten und zunächst einzigen Gebäude der Freien Universität. Wo heute das Audimax und andere zentrale Bauten der Universität stehen, waren leere Flächen und Felder.

An ihrer Rolle als Dozentin fand sie schnell Spaß

Waltraut Voigt suchte Arbeit und hatte in der Zeitung gelesen, dass Französisch-Lehrkräfte für eine neue Universität gesucht würden. „Sie kommen wie gerufen“, wurde ihr beschieden. Schon am folgenden Montag sollte sie anfangen – es war der 1. November, der Lehrbetrieb begann schon vor der feierlichen Gründung Anfang Dezember. Gelehrt hatte die promovierte Romanistin bis dahin in ihrem ganzen Leben nicht. „Ich habe nur zugesagt, weil ich mich an die Worte meines Vaters erinnerte“, sagt Waltraut Voigt. „Wenn ihr etwas nicht wisst und nicht könnt, ersetzt das durch Haltung.“ Sehr aufgeregt war sie dennoch, als sie an ihrem ersten Tag den Hörsaal unter dem Dach betrat. Zunächst ließ sie alle Studenten lesen, um deren Kenntnisse zu prüfen – und selbst ein wenig Zeit zu gewinnen. Doch schnell fand sie Spaß an ihrer Rolle als Dozentin: „Die Studenten waren so glücklich, nach dem Krieg endlich lernen zu dürfen“, sagt die Romanistin. „Und auch wir Dozenten waren voll Enthusiasmus dabei, die Universität aufzubauen.“

Abitur auf der Knabenschule mit Genehmigung des Hauptschulamtes Stettin

Dass Waltraut Voigt als promovierte Frau dafür überhaupt die Voraussetzung mitbrachte, war in ihrer Jugend in den zwanziger Jahren noch eine große Ausnahme. Geboren und aufgewachsen im heute polnischen Swinemünde, hatte sie ihren Vater schon mit zehn Jahren bedrängt, unbedingt studieren zu wollen. Das Abitur für seine Tochter ließ der Vater sich noch gefallen. Er beantragte beim Hauptschulamt in Stettin eine Genehmigung für seine Tochter, die örtliche Knabenschule zu besuchen. Dorthin ging sie mit immerhin fünf anderen Mädchen. Doch dass sie nach dem Abitur Medizin studieren wollte – der Vater war Arzt – ging diesem zu weit. Was sie denn tun würde, wenn sich ein Mann vor ihr ausziehen müsse?

Studium in Jena und Paris

Also entschied sich Waltraut Voigt für Sprachen – und entdeckte fremde Länder. Zwei Jahre ihres Studiums der Romanistik, Germanistik und Kunstgeschichte verbrachte sie in Paris, das zu jener Zeit in ihrem Umfeld als „Sündenbabel“ galt. Sie aber faszinierte es vor allem, hier Menschen aus aller Welt kennenzulernen. In Jena schloss sie das Studium mit dem Staatsexamen ab, und sie wurde 1935 promoviert – eigentlich wollte sie damals schon als Lehrerin arbeiten. Unter den Nationalsozialisten in den Staatsdienst zu gehen, kam für sie jedoch nicht infrage. Während der folgenden Jahre erzog sie ihren Sohn; beruflich übersetzte und dolmetschte sie, vor allem aus dem Französischen.

Lektorin und Dozentin an der neu gegründeten Universität

An der Freien Universität war Waltraut Voigt in den Anfangsjahren angestellt als Lektorin für Neufranzösisch, übernahm aber wegen Mangels an Lehrkräften auch angrenzende Gebiete, Literaturgeschichte und Phonetik, zudem Landeskunde. „Ich fand es wunderbar, den Studenten nicht nur die Sprache beizubringen, sondern ihnen auch Paris zu zeigen“, sagt Waltraut Voigt. „Die Deutschen waren so lange eingesperrt und kannten gar nichts von der Welt.“

In der Sprachlehre vollbrachte die Romanistin Pionierleistungen, indem sie in den ersten Jahren ein Sprachlabor aufbaute, das sie über die Jahre weiterentwickelte. Anfangs machte sie alles in Eigenarbeit: Sie stellte die Tonbänder selbst her, überspielte Platten und nahm Sätze von Muttersprachlern auf. Das war der Grundstein für ein großes zentrales Sprachlabor, das 1973 eingerichtet wurde und später zur „Zentraleinrichtung Sprachenzentrum“ wurde. Hier können Studenten der Freien Universität heute Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch, Russisch und Deutsch als Fremdsprache lernen.

1961 Studien- und Weiterbildungsaufenthalt in den USA

Um ihre Methoden weiterzuentwickeln, ging Waltraut Voigt 1961 für ein Jahr an ein College im US-amerikanischen Bundesstaat Minnesota und studierte „moderne Techniken in der Sprachlehre“. Gleichzeitig unterrichtete sie auch dort Französisch. Vom amerikanischen Pragmatismus war sie erneut beeindruckt, wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg, als mit amerikanischer Hilfe die Freie Universität aufgebaut wurde. Anfang der sechziger Jahre waren an deutschen Universitäten noch die traditionellen, formvollendeten Anreden „Spectabilität“ und „Magnifizenz“ üblich. Die Strenge der Sitten sollte sich auch an deutschen Hochschulen in den folgenden Jahren wandeln.

Noch im Ruhestand als Hochschullehrerin tätig

1968 wurde Waltraut Voigt nach den beruflichen Stationen wissenschaftliche Rätin und Oberrätin zur Professorin ernannt. „Ich galt zur damaligen Zeit als liberal, was unter manchen linken Studenten durchaus suspekt war“, erinnert sich Waltraut Voigt. Zwar wurde ihr auch einmal die Tür eingetreten von Studenten, doch diesen Vorfall nahm sie gar nicht so ernst. Engen Austausch mit den Studenten habe sie auch damals gehalten: „Zu mir kamen ja immer die Jüngsten.“ Einige Jahre später, 1973, ging Waltraut Voigt in den Ruhestand – ein Semester später als geplant, da ein Nachfolger noch gesucht wurde. Als Hochschullehrerin war sie jedoch weitere 20 Jahre tätig: Sie unterrichtete unter anderem Veterinärmediziner in französischer Sprache, um sie auf ihre Tätigkeit in ehemaligen französischen Kolonien vorzubereiten. Die passionierte Lehrerin hält weiterhin Kontakt zu ihrer Universität – auch über Studenten, an die sie seit Jahrzehnten ein Zimmer ihrer Altbauwohnung vermietet. Als im Herbst 2007 die Freie Universität das Exzellenz-Prädikat erhielt, sei die Freude zu Hause groß gewesen. „Zu dieser Zeit wohnte eine Studentin bei mir“, erzählt Waltraut Voigt. „Sie hat überall stolz verkündet, dass sie bei jemandem wohnt, der die Freie Universität Berlin mit aufgebaut hat.“

Nicht nur ihrer Freien Universität und den Studenten hält Waltraut Voigt die Treue, auch ihrer früh entdeckten Liebe zu den romanischen Sprachen und Ländern. Ihren Sommerurlaub verbrachte sie in diesem Jahr mit ihrem 69-jährigen Sohn in Italien, und auch im kommenden Jahr will sie wieder dorthin reisen – dann 101-jährig.