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Vermittlerin zwischen zwei Sprachwelten

Die Autorin Olga Martynova wurde mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet und auf die Heiner-Müller-Gastprofessur berufen

20.02.2015

Die Schriftstellerin Olga Martynova ist mit dem Berliner Literaturpreis 2015 der Stiftung Preußische Seehandlung geehrt worden.

Die Schriftstellerin Olga Martynova ist mit dem Berliner Literaturpreis 2015 der Stiftung Preußische Seehandlung geehrt worden.
Bildquelle: Stephan Töpper

Der Literaturpreis wurde in feierlichem Rahmen im Roten Rathaus vergeben.

Der Literaturpreis wurde in feierlichem Rahmen im Roten Rathaus vergeben.
Bildquelle: Stephan Toepper

Gratulation an Olga Martynova von Universitätspräsident Peter-André Alt, Walter Rasch (Vorstandsvors. Preußische Seehandlung) und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (v.l.).

Gratulation an Olga Martynova von Universitätspräsident Peter-André Alt, Walter Rasch (Vorstandsvors. Preußische Seehandlung) und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (v.l.).
Bildquelle: Stephan Toepper

Ein Kind und ein Gemälde teilen sich Popcorn – das gibt es nur in der poetischen Welt von Olga Martynova, die in diesem Jahr mit dem Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet wurde. Im kommenden Sommersemester bekleidet die russischstämmige Autorin, die Gedichte ebenso wie Romane verfasst hat und bei der Preisverleihung im Roten Rathaus ein Theaterstück vorstellte, die Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft.

Es gibt wohl nur wenige Autorinnen und Autoren, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, sondern in einer Fremdsprache, die sie erst als Erwachsene gelernt haben. Dazu gehört etwa Vladimir Nabokov: Er begann im Exil, seine Romane auf Englisch statt auf Russisch zu schreiben. Auch Olga Martynova, aufgewachsen in der gleichen Stadt wie Nabokov – nur dass diese bereits St. Petersburg und nicht mehr Leningrad hieß – wechselt für bestimmte Gattungen ihre Schreibsprache. Seit 1991 lebt die Autorin in Deutschland: Gedichte verfasst sie auf Russisch, Romane auf Deutsch.

Es sei ein Geschenk, die Welt auf diese Weise von zwei Seiten betrachten zu können, hatte Olga Martynova bei der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises vor zwei Jahren gesagt. Ein Geschenk, das sie durch die Spracherkundungen in ihren Büchern mit ihren Lesern teilt. Dafür wurde sie nun mit dem Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, verlieh in diesem Jahr zum ersten Mal die mit 30.000 Euro dotierte Auszeichnung. Er sagte, dass es Olga Martynova gerade durch die Übertragung in die erlernte Sprache gelinge, das Verlorene lebendig zu halten. Das Werk der „literarischen Vermittlerin zwischen Russland, Deutschland und dem Westen insgesamt“ zeige, dass Sprache Teilhabe ermögliche an einer multikulturellen Gesellschaft.

Zwiegespräch zwischen Dichterinnen

Eher ein Zwiegespräch zwischen Autorinnen war die Laudatio von Elke Erb: Als Lyrikerin und Verfasserin von Kurzprosa hat sie selbst Gedichte Olga Martynovas ins Deutsche übertragen. „Sieh‘ hin, was tut sie?“ sei eine Frage, die sie sich oft beim Lesen der Texte ihrer Kollegin stelle, sie sehe „im Text die Werkstatt“. Sie selbst gehe manchmal immer noch an Texte heran „wie ein Kind“, durch Olga Martynova lerne sie neu lesen. Elke Erb, die in der DDR von der Staatsicherheit überwacht wurde und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen werden sollte, erinnerte auch an Olga Martynovas Beschäftigung mit unter Stalin umgekommenen Avantgardekünstlern wie Daniil Charms oder Alexander Wwedenski. Diese verleihe ihren Romanen „Helle“. Es zeige sich „das nackte Elend einer verlogenen Utopie“. Olga Martynovas Romane vermittelten zudem „Grundzüge der postsowjetischen Öffnung“.

Schreiben lernen ist Lesen lernen

Genug Lehrstoff also für die zwanzig Studierenden, die im Sommersemester an dem Seminar teilnehmen, das die in Frankfurt lebende Autorin als Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin geben wird. In dieser literarischen Werkstatt werden Nachwuchsautorinnen und -autoren aller Fachbereiche auch die Möglichkeit haben, eigene Texte zu diskutieren. Professor Peter-André Alt, Präsident der Freien Universität Berlin, sagte bei der Berufung der neuen Gastprofessorin, er hoffe, der doppelte Blick Olga Martynovas werde sich den Studierenden vermitteln. Er erinnerte daran, dass die Autorin nun schon die dritte Berliner Literaturpreisträgerin sei, die nicht in Deutschland geboren wurde und die nun das nach-sozialistische Europa auf Deutsch literarisch durchleuchte. Aus diesem Grund könne sie Vorbild für die Studierenden sein, etwas „Eigenes“ zu schaffen. Denn die Sprache Martynovas sei gerade deshalb ein „präzises Werkzeug“, weil sie nicht selbstverständlich sei, sondern aus dem „Zwischenraum“ zwischen zwei Sprachen entstehe.

Der Segen Heiner Müllers

Preis und Gastprofessur bedeuteten ihr sehr viel, sagte Olga Martynova. Die Nachricht über die Auszeichnung habe sie just in jenem Moment erreicht, als sie ein Theaterstück vollendet hatte. Sie erscheine ihr wie „ein Segen Heiner Müllers“ für ihr Werk, mit dem die Autorin nun ein weiteres literarisches Genre erschlossen hat. Dass sie dabei ihren „verschroben anarchischen Witz“ bewahrt hat, den die Jury so lobte, wurde bei ihrer Lesung deutlich.

Ausgangspunkt des Stücks ist eine Wohnung voller Kunstwerke – inspiriert vom Fall Cornelius Gurlitt als einem Menschen, der sein Leben in der unmittelbaren Nähe zu Kunst verbringt. Ein Kind, die Gemälde und Engel kommen in der Dunkelheit ins Gespräch: „Kunstwerk kann jeder werden, man braucht keine Autorisierung dafür“, heißt es wiederkehrend, intoniert wie von einem Chor in antiken Dramen. Der Auszug aus dem Theaterstück endete prosaisch-überdreht mit einer Situation, in der sich Kind und Bild Popcorn teilen. Wie es wohl weitergeht? In der eigensinnigen, unberechenbaren poetischen Welt Olga Martynovas ist keine Prognose möglich.

Weitere Informationen

Der Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung und die damit verbundene Gastprofessur an der Freien Universität bestehen seit 2005. Die Professur bietet den Preisträgern jeweils im Sommersemester ein Forum für die Textarbeit mit Studierenden der Hochschulen in Berlin und Brandenburg.

Bisherige Preisträger und Dozenten waren Herta Müller, Durs Grünbein, Ilija Trojanow, Ulrich Peltzer, Dea Loher, Sibylle Lewitscharoff, Thomas Lehr, Rainald Goetz, Lukas Bärfuss und Hans Joachim Schädlich. Der Jury des Berliner Literaturpreises 2015 gehören Peter-André Alt, Sonja Anders, Jens Bisky, Kristin Schulz und Thomas Wohlfahrt an.