Zwischen Kunst und Kuhmagen
Noch bis 3. April: Rauminstallation „Organism Response“ in der Nationalgalerie Sammlung Scharf-Gerstenberg
31.03.2016
Auf mehreren Bildschirmen sieht man Polizisten, die um einen Mann herumreiten. Der Mann steht in einem dunklen Raum und rezitiert die Szene „Anmutige Gegend“ aus Goethes Faust II. „Der Wald ertönt von tausendstimmigem Leben, Tal aus, Tal ein ist Nebelstreif ergossen“, heißt es dort, während die Polizisten weiter im Kreis reiten. Die Videos sind Teil der Rauminstallation „Organism Response“ des Künstlers David Olbrich, die derzeit im Sahurê-Saal der Nationalgalerie Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin-Charlottenburg zu sehen und mit Unterstützung des Fachbereichs Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin entstanden ist. Die Bildschirme mit den Filmen sind eingebettet in eine Anordnung aus Stahl, Schläuchen und riesigen Orgelpfeifen. Im Hintergrund hört man Geräusche aus dem Innern einer Kuh.
Die Aufnahmen für die Magengeräusche der Wiederkäuer sind an der Freien Universität entstanden. David Olbrich hat sich mit seiner ungewöhnlichen Bitte, die Aufnahmen auf dem Gelände des Fachbereichs Veterinärmedizin in Berlin-Düppel machen zu dürfen, an die Tierärztin und geschäftsführende Direktorin der Klinik für Klauentiere Professorin Kerstin Müller gewandt.
Trotz der vielzitierten Apparatemedizin sind Veterinärmediziner bei der Diagnostik von Krankheiten weitestgehend auf ihre fünf Sinne angewiesen. So gehört das Abhören von Tieren mit dem Stethoskop zum Standardprogramm der Untersuchung. Damit Studierende lernen können, wie die normalen Geräusche aus dem Innern eines Tieres klingen, verfügt die Klinik über einen eigenen Bestand an Milchkühen. Abnorme Geräusche aus dem Innern einer Kuh werden häufig durch eine Krankheit hervorgerufen. Im Tierhospital werden Kuhpatienten untersucht und behandelt.
Eine bei Milchkühen häufig auftretende Krankheit ist die Labmagenverlagerung. Diese Krankheit erzeugt in der Flanke des Körpers einen blechernen Klang, der an die Musik erinnert, die in der Karibik den sogenannten Steeldrums entlockt wird, findet Olbrich. Der Künstler hat damit genau die Geräusche gefunden, die er für sein Projekt brauchte. Für eine Rauminstallation, die das Zusammenspiel von Mensch, Tier, Zufall und Geplantem thematisiert, erschienen ihm zusätzlich Aufnahmen aus dem gesunden Pansen, dem Magen der Kuh, genau richtig.
Offenheit gegenüber unbeherrschbaren Phänomenen
Den „Weg vom Abgeschlossenen zum Unabgeschlossenen“ möchte Olbrich darstellen, auch am Beispiel des Zusammenspiels von Mensch und Tier. Er selbst ist in Berlin groß geworden, hat jedoch über seine Familie einen Bezug zum Landleben entwickeln können. 2012 schloss er sein Produktdesign-Studium an der Universität der Künste (UdK) ab. „Mein Projekt folgt der Idee, dass unsere wahren kulturellen Leistungen auf einer Offenheit gegenüber Phänomenen beruhen, die man nicht dominieren kann“, sagt Olbrich. „Ich glaube, was uns als Menschen ausmacht, ist auch Abstand nehmen zu können von einem totalen Plan oder bestimmten Standard.“ Aus diesem Grunde hat er seine etwas ungewöhnliche Versuchsanordnung konzipiert: Polizisten auf Pferden werden mit Goethe konfrontiert und der Betrachter wiederum mit den Videosequenzen sowie den Orgelklängen und Tiergeräuschen.
Geräusch-Datenbank
Unabhängig vom künstlerischen Anspruch hat Olbrichs Arbeit einen praktischen wissenschaftlichen Nutzen: Bei Kühen lassen sich eine ganze Reihe von Erkrankungen anhand von Geräuschen identifizieren. Dafür werden allerdings Tierärzte benötigt, deren Gehör sehr genau geschult ist. Kerstin Müllers Idee: Sie will eine Tondatenbank mit Geräuschen von Kühen mit unterschiedlichen Krankheiten zu unterschiedlichen Zeitpunkten anlegen. Studierende könnten dann künftig darauf zurückgreifen, wenn gerade kein Tier in der Klinik zur Verfügung steht.
Die Idee, die Schallphänomene digital zu erfassen und weitab vom Patienten durch Experten interpretieren zu lassen, wird in der Humanmedizin ernsthaft verfolgt und könnte zukünftig für die Nutztierpraxis interessant sein. „Dadurch könnte beispielsweise der Antibiotika-Einsatz verringert werden“, sagt Kerstin Müller, „weil man die Medikamente dann nur noch verabreichen müsste, wenn sie wirklich nötig sind, und die Tiere nicht bei leichten Erkrankungen präventiv damit versorgt werden.“
Kerstin Müller möchte deshalb Forschungsgelder für den Aufbau einer solchen Datenbank beantragen. Zusammen mit David Olbrich, der über entsprechendes technisches Wissen und Equipment verfügt, und einem Physiker, der die Frequenzen bei den Aufnahmen auswertet, will sie sich in Berlin-Düppel an die Arbeit machen. Der Künstler Olbrich ist von der Idee begeistert: „Ich finde es total spannend, am lebenden Tier zu arbeiten.“
Weitere Informationen
Die Rauminstallation „Organism Response“ ist noch bis zum 3. April in der Nationalgalerie Scharf-Gerstenberg in der Schloßstraße 70 in 14059 Berlin-Charlottenburg zu sehen. Die Sammlung ist montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr und samstags und sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet.