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„Wir müssen stärker darüber nachdenken, was wir mit unserer Arbeit bewirken“

Ein Gespräch mit Informatikprofessorin Claudia Müller-Birn, die die Ringvorlesung „Open Technology for an Open Society“ mitkonzipiert hat / Vorträge immer mittwochs, 18.15 – 19.45 Uhr, an der Freien Universität

12.12.2017

Ringvorlesung „Open Technology for an Open Society“.

Ringvorlesung „Open Technology for an Open Society“.
Bildquelle: Justin Cormack / wikimedia.org / CC BY-SA 2.0

Seit Anfang des Wintersemesters läuft im Rahmen des Offenen Hörsaals die Ringvorlesung „Open Technology for an Open Society“. Die immer mittwochs angebotene Veranstaltung wird vom Institut für Informatik der Freien Universität in Kooperation mit Wikimedia Deutschland e.V. organisiert. Im Fokus steht die Frage, wie die Offenheit von Technologien und die Offenheit einer Gesellschaft einander bedingen. Offene Technologien, wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia oder das Betriebssystem Linux, erlauben es Menschen, aufbauend auf dem Wissen von anderen, gemeinsam Probleme zu lösen. Lassen sich die Auswirkungen solcher Technologien auf die Gesellschaft nachvollziehen? Claudia Müller-Birn, Professorin für Human-Centered Computing am Institut für Informatik der Freien Universität, hat die Ringvorlesung mitkonzipiert. Im Interview erklärt sie, warum Technik nicht als isoliertes Phänomen betrachtet werden darf, sondern im Kontext gesehen werden muss, in dem sie eingesetzt wird.

Frau Professorin Müller-Birn, warum haben Sie die Ringvorlesung mitkonzipiert?

Die Informatik hat sich geändert – nicht die Informatik als Disziplin oder Fach, sondern wie sie gesellschaftlich wahrgenommen wird. Die Begriffe „Digitaler Wandel“, „Industrie 4.0“, „Big Data“ zeigen, dass die Informatikthemen über die Medien in der Gesellschaft angekommen sind. Wir brauchen einen Dialog über unser Fach hinaus, um zu zeigen, woran Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten, und welche Gestaltungsmöglichkeiten wir einbringen können. Eine rein technische Betrachtung vieler Fragestellungen ist nicht mehr ausreichend, weil wir mit den Lösungen, die in der Informatik entwickelt werden, auch auf gesellschaftliche Prozesse Einfluss nehmen.

Heute taucht in der Zeitung das Wort „Algorithmus“ immer dann auf, wenn jemand sagen möchte, dass da etwas Kompliziertes im Computer vor sich geht, was man aber nicht näher erklären könne. Möchten Sie etwas Komplexität in das Gespräch über Algorithmen zurückbringen?

Lassen Sie mich die Frage so beantworten: In einem der ersten Vorträge hat Lorena Jaume-Palasí, die Geschäftsführerin von Algorithm Watch, in einem schönen Vergleich Facebook als die Agora oder Pnyx der Gegenwart bezeichnet. Die Pnyx war im antiken Athen der erste Versammlungsort der gerade entstehenden Demokratie, an dem sich Personen getroffen haben, um Entscheidungen zu diskutieren. Heute findet Meinungsbildung vermehrt auf Twitter oder Facebook statt. Welche Folgen aber hat es, wenn solche Plattformen von Unternehmen zur Verfügung gestellt werden? Wenn Unternehmen entscheiden, was wir sehen und wann wir es sehen? Uns geht es bei der Ringvorlesung nicht darum, Algorithmen zu ändern. Was wir erreichen wollen, ist eine Sensibilisierung der Gesellschaft, aber auch der Politik. Das bedeutet zu hinterfragen, welche Folgen es hat, wenn immer mehr Menschen sich überwiegend über Facebook informieren. Welche Auswirkungen hat es für das demokratische Verständnis des Einzelnen, wenn die Prozesse der individuellen Entscheidungsfindung auch auf diesen Plattformen stattfinden? Was passiert mit unseren Daten? Aufklärungsarbeit in diesen Fragen ist etwas, das die Informatik gut leisten kann.

Das ist der eine Punkt, der zweite Punkt ist: Wir als Informatiker sind natürlich aktiv daran beteiligt, diese Plattformen mitzugestalten, denn wir bilden die Informatiker und Informatikerinnen aus, die letztlich für Unternehmen wie Google & Co. arbeiten oder ihr eigenes Unternehmen gründen. Welche Auswirkungen haben aber die Software oder Algorithmen, die wir entwickeln, auf den Einzelnen und die Gesellschaft? Wir in der Informatik müssen viel mehr darüber nachdenken, was wir mit unserer Arbeit bewirken.

Sie appellieren also ans ethische Verantwortungsbewusstsein von Informatikerinnen und Informatikern?

Absolut! Darüber hinaus muss von politischer Seite darüber nachgedacht werden, an welcher Stelle Regulierungen notwendig sind. Auch das war schon Thema (Sven Herpig) im Rahmen der Ringvorlesung und wird noch einmal Thema (Matthias Katerbow) sein.

Claudia Müller-Birn, Professorin für Human-Centered Computing am Institut für Informatik, hat die Ringvorlesung mitorganisiert.

Claudia Müller-Birn, Professorin für Human-Centered Computing am Institut für Informatik, hat die Ringvorlesung mitorganisiert.
Bildquelle: Frank Wolffing-Seelig

In der Ringvorlesung geht es um Open Access, Open Data, Open Software – Begriffe, die in der Wissensvermittlung an die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Warum ist Wissen, das an steuerlich geförderten Einrichtungen produziert wird, nicht grundsätzlich offen und kostenfrei zugänglich?

Das Wissenschaftssystem funktioniert ziemlich verquer. Wir Wissenschaftler werden überwiegend staatlich finanziert. Wir forschen und veröffentlichen unsere Forschungsergebnisse in wissenschaftlichen Zeitschriften oder bei Konferenzen. Um dann aber wieder Zugriff auf unsere wissenschaftlichen Ergebnisse zu erlangen und sie mit unseren Kollegen zu teilen, müssen wir Verlage, beispeilsweise Elsevier, dafür bezahlen, dass sie uns den Zugang zu unseren eigenen Artikeln ermöglichen. Wenn öffentliche Bibliotheken die Journals ankaufen, werden wiederum Steuermittel aufgewandt. Nicht nur die wissenschaftliche Produktion wird also durch Steuergelder finanziert, sondern auch das Einkaufen und die Verbreitung der Ergebnisse ebendieser wissenschaftlichen Produktion. Die hohen Preise der Wissenschaftsverlage führen zu einer Zweiklassengesellschaft: Bibliotheken kleinerer Hochschulen und auch solcher in Osteuropa, Afrika und Asien können es sich nicht in allen Fällen leisten, die Verlagsartikel zu erwerben. Das wiederum bedeutet, dass sie nicht an der wissenschaftlichen Entwicklung teilhaben können und den Anschluss verlieren.

Deshalb plädiere ich dafür, dass wissenschaftliche Publikationen der Allgemeinheit über Open Access zur Verfügung gestellt werden sollten. Die Freie Universität Berlin hat sich dieser Verantwortung bereits vor zehn Jahren angenommen. Christina Riesenweber, Open-Access-Beauftragte der Freien Universität Berlin, wird im Open Science Panel am 14. Februar 2018 darüber berichten.

Im Zusammenhang mit Open Science ist aber nicht nur die Publikation von Ergebnissen wichtig, sondern auch die Veröffentlichung der experimentell erhobenen Daten sowie der Software, mit der die Daten analysiert werden. Damit können Forscherinnen und Forscher sicherstellen, dass ihre Ergebnisse reproduzierbar sind und von anderen nachvollziehbar. Der vom CERN – der Europäischen Organisation für Kernforschung – entwickelte Open-Source-Speicherdienst Zenodo ermöglicht es beispielsweise, Daten und Quellcode mit einem sogenannten Digital Object Identifier (DOI) zu versehen und so zitierfähig zu machen. Darüber haben wir im Rahmen der Ringvorlesung mit Sünje Dallmeier-Tiessen diskutiert, die am CERN im Bereich Open Science beschäftigt ist.

Welche Referentinnen und Referenten halten die Vorträge?

Wir haben einerseits Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingeladen und andererseits Vertreterinnen und Vertreter von Vereinen und NGOs – etwa der Free Software Foundation, von Wikimedia Deutschland e.V., von der Stiftung Neue Verantwortung oder der Open Knowledge Foundation. Ich würde den Austausch zwischen NGOs und der Wissenschaftsgemeinschaft gern weiter stärken, weil wir häufig ähnliche Ziele verfolgen.

Die einzelnen Vorträge sind in sich geschlossen und beschäftigen sich immer mit einem bestimmten Thema. Ich freue mich, dass sich das Publikum, das von Studierenden bis zu Interessierten im Pensionsalter reicht, aktiv in die Diskussion einbringt. Wir sprechen auch darüber, wo wir uns als Universität hinbewegen wollen. Insgesamt bietet die Ringvorlesung die Möglichkeit, direkt mit Personen ins Gespräch zu kommen, die im Feld von Offenem Wissen arbeiten und forschen.

Was kann man tun, wenn man einzelne Veranstaltungen verpasst hat?

Alle Veranstaltungen werden aufgezeichnet und sind auf unserer Website abrufbar.

Die Fragen stellte Sören Maahs

Weitere Informationen

Alle Veranstaltungen der Ringvorlesung sind öffentlich. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Die Termine und Themen der einzelnen Vorträge sind hier einsehbar.

Die aktuellen Termine im Überblick

  • 13.12.2017: „Relevanz Freier/Open Source Software für eine freie und offene Gesellschaft“ (Matthias Kirschner)
  • 20.12.2017: „Trust, but Verify? Technical Constraints of Anonymous Internet Communication“ (Florian Tschorsch)
  • 10.01.2018: „Open Technologies are Key for the Success of the Internet?!“ (Matthias Wählisch)
  • 17.01.2018: „Community-Netzwerk Freifunk“ (Maria Krieg)
  • 24.01.2018: „Open Education and Digital Citizenship“ (Nils Weichert)
  • 31.01.2018: „Data Mining Technologies at the Service of Open Knowledge“ (Laurent Romary)
  • 07.02.2018: „Openness and Collaboration in Modern Scholarship Based on Digital Information Infrastructures“ (Matthias Katerbow)
  • 14.02.2018: Podiumsdiskussion: „Open Science – Offenheit in Zeiten der Konkurrenz“ (Christina Riesenweber, Marion Goller, Konrad Förstner, Jana Hoffmann, Angela Grosse (Moderation))