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Warum wir krank werden: Evolutionäre Medizin in der Lehre

Von A wie Antibiotika-Resistenz bis Z wie Zivilisationskrankheit: Studierende und Lehrende der Berlin University Alliance gehen evolutionsbedingten Ursachen von Erkrankungen auf den Grund

01.02.2022

Studierende im Hörsaal der Zoologie der Freien Universität Berlin

In der Forschung stark im Trend: Evolutionäre Medizin. Dazu trägt auch die Covid19-Pandemie bei. Ein neues Lehrmodul des Uni-Verbunds BUA macht Studierende der Biologie, Biochemie, Human- und Veterinärmedizin mit evolutionären Konzepten vertraut.
Bildquelle: Marion Kuka

Wenn Antibiotika gegen bakterielle Krankheitserreger nicht mehr wirken, ist meist die Evolution im Spiel: Nur die Bakterien, die den Kontakt mit einem Antibiotikum überlebt haben, geben ihre Gene an Nachkommen weiter. Nach Minuten, allenfalls Stunden, ist die neue Mikroben-Generation dann schon ein bisschen besser gegen das Medikament gerüstet als ihre Vorgängerin. Mehr als eine Million Todesfälle weltweit ging 2019 laut Schätzungen einer internationalen Gruppe von Fachleuten im Journal „The Lancet“ direkt auf das Konto von resistenten Keimen.

Mutation und Fitness-Vorteil: Konzepte der Evolution nutzen der Medizin

Aber auch Krebs, Bluthochdruck, Diabetes und Muskel-Skelett-Erkrankungen lassen sich aus der Perspektive der Evolution betrachten: Der menschliche Körper hat sich über Jahrtausende auf ein kurzes Jäger- und Sammlerleben in der afrikanischen Savanne angepasst. Inzwischen leben wir immer länger, bewegen uns immer weniger und ernähren uns anders – auch darin vermuten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen für viele sogenannte Zivilisationskrankheiten.

In der Forschung ist evolutionäre Medizin gerade stark im Trend, auch die weltweite Covid19-Pandemie trägt dazu bei. Spätestens seit dem Auftauchen der Virusvariante Omikron sind Begriffe wie Mutation oder Fitness-Vorteil auch einer breiteren Öffentlichkeit geläufig.

Die Lehrveranstaltung über evolutionäre Medizin ist ein BUA-Modul

In der universitären Lehre gehört evolutionäre Medizin jedoch noch nicht zum Standardprogramm. Das soll sich ändern, beschlossen Ulrich Steiner und Sophie Armitage, die jeweils eine Nachwuchsgruppe am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin leiten.

Gemeinsam mit dem Biologieprofessor Jens Rolff von der Freien Universität konzipierten sie für das laufende Wintersemester die erste Lehrveranstaltung über evolutionäre Medizin unter dem Dach der Berlin University Alliance (BUA), dem Exzellenz-Verbund von Freier Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin sowie Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Evolutionsbiologie Ulrich Steiner im Hörsaal der Zoologie an der Freien Universität Berlin

Ulrich Steiner leitet als Heisenberg Fellow eine Nachwuchsgruppe am Institut für Biologie der Freien Universität. In seiner Forschung betrachtet er die Zusammensetzung und das Altern von Populationen aus evolutionärer Perspektive.
Bildquelle: Marion Kuka

Studierende lernen interdiszplinär

Die Veranstaltung ist ein sogenanntes BUA-Modul, ein Lehrangebot, an dem Studierende aller vier Verbundpartnerinnen teilnehmen können. „Wir bringen Studierende und Lehrende aus der Biologie, Biochemie, Human- und Veterinärmedizin zusammen“, sagt Ulrich Steiner, der in seiner Forschung die Zusammensetzung und das Altern von Populationen aus evolutionärer Perspektive betrachtet.

Denn die Gesetze der Evolution gelten für Einzeller, Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen. „Wenn wir wissen wollen, warum wir krank werden, müssen wir auch betrachten, wo wir herkommen und wie wir uns zusammen mit anderen Spezies entwickelt haben.“ Das gelänge am besten im interdisziplinären Austausch. Ziel der noch jungen Forschungsrichtung sei aber auch, neue Ansätze zur Vorbeugung und Therapie von Krankheiten zu entwickeln.

Jede Woche werden aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichungen diskutiert

Weil die Konzepte der Evolution sich auf so viele verschiedene Forschungsfragen anwenden lassen, führt in der Lehrveranstaltung jede Woche eine andere Dozentin oder ein anderer Dozent in ein spezielles Thema ein: etwa die Evolution von Viren und von Antibiotikaresistenzen, die evolutionären Wurzeln von Nerven- und Zivilisationskrankheiten und die Evolution der sexuellen Differenzierung, des Alterns und des Immunsystems. Die Kurssprache ist Englisch.

Nach dem Einführungsvortrag stellen Studierende im Team zwei wissenschaftliche Veröffentlichungen vor und arbeiten deren Bezug zur evolutionären Medizin heraus. Anschließend wird darüber ausführlich im Plenum diskutiert.

Es sei zwar anstrengend, für den Kurs jede Woche mehrere Fachartikel auf Englisch zu lesen, sagt Lena, die an der Freien Universität Veterinärmedizin im siebten Semester studiert. „Durch die regelmäßige Übung bin ich aber schon viel besser darin geworden.“ Sie habe außerdem neue Theorien kennengelernt, die sie auch in der Veterinärmedizin anwenden könne.

Molekulare Mechanismen am Beispiel verschiedener Spezies verstehen

Lia studiert Biochemie an der Freien Universität, auch sie schätzt den Austausch mit Studierenden und Lehrenden aus anderen Fächern: „Die Biochemie spielt sich auf molekularem Niveau ab. Doch manchmal ist es gut, einen Schritt zurückzutreten, um einen Überblick zu bekommen“, sagt die Studentin. So lasse sich herausfinden, warum ein bestimmter molekularer Mechanismus entstanden ist und wie er bei anderen Spezies funktioniert.

In der Pandemie sei ihr immer klarer geworden, welche große Rolle Evolution bei medizinischen Fragen spielt, sagt Luise, Biologie-Masterstudentin an der Freien Universität Berlin. Sie habe selbst mal mit dem Gedanken gespielt, Medizin zu studieren, und sei nun froh, in diesem Kurs mit Lehrenden und Studierenden aus anderen Fächern über medizinische Fragen diskutieren zu können.

Diego studiert Medizin an der Charité und schreibt seine Dissertation in Immunologie. Für die Lehrveranstaltung zur Evolutionären Medizin, die auch gestreamt wird, fährt er sogar von Berlin-Mitte nach Dahlem an die Freie Universität Berlin, weil er sich im Hörsaal besser auf den Vortrag und die Diskussion konzentrieren könne als vor dem Bildschirm.

Aufgrund der Corona-Pandemie kommt zurzeit nur ein Teil der 26 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mittwochnachmittags im großen Hörsaal der Zoologie in Präsenz zusammen, die anderen folgen dem Seminar online.

Mit dabei: Peter Hammerstein von der Humboldt-Universität und Christian Drosten von der Charité

Auch Peter Hammerstein, Professor für Theoretische Biologie an der Humboldt-Universität, ist für seinen Vortrag über die evolutionäre Differenzierung der Geschlechter in den Hörsaal an die Freie Universität gekommen. „Studierende anderer Fächer stellen häufig andere Fragen“, sagt er. „Deswegen ist es für mich ein Gewinn, an diesem Seminar teilzunehmen.“ Interdisziplinär zu forschen, sei inzwischen normal, er freue sich, wenn die Lehre nun nachziehe.

Biologieprofessor Peter Hammerstein von der Humboldt-Universität im Hörsaal der Zoologie an der Freien Universität Berlin

Peter Hammerstein ist Professor für Theoretische Biologie an der Humboldt-Universität. Sein Forschungsinteresse gilt den Themen „Konflikt und Kooperation“, „Economics in Nature“ und „Darwinian Decision Theory“.
Bildquelle: Marion Kuka

Den Studierenden zeigt er in seiner umfassenden Einführung, warum die Ausprägung von zwei Geschlechtern bei fast allen Tierarten schon für Charles Darwin, den Begründer der Evolutionstheorie, ein spannendes Thema war und für viele Forschende bis heute immer noch ist.

Für den kurzen Weg von der Theorie zur praktischen Anwendung hat der Biologieprofessor viele Beispiele: Mit einer Kampagne, die auf Erkenntnissen der Evolutionsbiologie beruhe, sei es etwa in einigen Regionen Australiens gelungen zu verhindern, dass Stechmücken den Erreger für das Dengue-Fieber auf Menschen übertragen.

Auch Christian Drosten, Professor und Leiter des Instituts für Virologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin, hat zu der Lehrveranstaltung beigetragen: Der Corona-Spezialist hat mit evolutionärem Blick betrachtet, wie und wo SARS-CoV-2 entstanden ist.

Seine Institutskollegin Sandra Junglen wird in einer weiteren Sitzung vorstellen, wie Evolution und Ökologie die geografische Ausbreitung und die Entstehung epidemischer Viren beeinflussen.

Dino McMahon, Professor am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin für Evolution und Ökologie von Wirtsparasiten, wird die Seminarreihe mit einer Veranstaltung über „undichte“ Impfstoffe abschließen, also über Vakzine, die die Virusvermehrung oder Übertragung nicht reduzieren und damit den Erregern ermöglichen, sich weiterzuentwickeln und virulenter zu werden.

Weitere Informationen

Die im Juli 2021 verabschiedete Rahmenvereinbarung Lehre sieht eine stärkere Zusammenarbeit der Berlin-University-Alliance-Partnerinnen in der Lehre vor. Neben gemeinsamen BUA-Studiengängen und den Forschungsprojekten für Studierende (StuROPx) werden BUA-Module angeboten, also ausgewählte, für Studierende aller vier Verbundpartnerinnen offene Lehrveranstaltungen. Neue BUA-Module sind ab Sommersemester 2022 im jeweiligen elektronischen Vorlesungsverzeichnis zu finden.

Lese-Tipp: Artikel über evolutionäre Medizin für Laien