Abschiedsschmerz
Marie Funke lässt in ihrer letzten Post ihren Hongkong-Aufenthalt Revue passieren – er ist anders verlaufen als gedacht
09.03.2020
Vor einem Auslandsaufenthalt hört man oft, dass die Erfahrung ganz anders sein wird, als man es sich vorher ausmalt – und gerade deswegen zu einer der besten werden wird, die man je erlebt hat. Sechs Monate später kann ich dem nur zustimmen, denn vieles ist ganz anders gelaufen ist als erwartet: Mitte November fand ich mich auf einem Universitätscampus und in einer Sieben-Millionen-Stadt im absoluten Ausnahmezustand wieder, und mein zweites Semester musste ich aufgrund des Corona-Virus frühzeitig abbrechen. Trotzdem würde ich mich immer wieder für Hongkong entscheiden.
Die vergangenen Monate sind einerseits an mir vorbeigerast, und gleichzeitig ist genug passiert, um damit eine ganze Romantrilogie füllen zu können: hunderte Begegnungen und politische Gespräche, Frustration und Wut, neue Sprachen, kulinarische Entdeckungen und viel zu viele verfrühte Abschiede. Tatsächlich studiert habe ich zusammengerechnet nur die Hälfte der Zeit.
Was mir diese Stadt und meine anderthalb Semester an der Chinese University gegeben haben, lässt sich daher noch nicht ganz in Worte fassen. Alles verblasst vor dem Hintergrund der Intensität der Ereignisse, die sich überschlagen haben. Jede Dramatik und alle klischeehaften Gedanken über die Unberechenbarkeit des Augenblicks mal beiseitegelassen, sind es vor allem die Menschen, die mir in Erinnerung bleiben werden.
Was mit 600 Austauschstudierenden im August begann, endete mit rund 40 Menschen, die ebenso stur wie ich und allen Empfehlungen zum Trotz so lange wie möglich in Hongkong ausharren wollten. Die Stadt, deren Bewohnerinnen und Bewohner seit Monaten einer Belastungsprobe nach der anderen ausgesetzt sind, gehört trotzdem oder vielleicht gerade durch ihren Umgang damit zu den faszinierendsten Orten, die ich je mein Zuhause nennen durfte.
Neben der atemberaubenden Natur, den verwinkelten Hochhauslabyrinthen und Michelin-Stern-gekürten Straßenrestaurants erlebte ich eine Stadt mit beeindruckendem politischem Widerstand und strategischem Ideenreichtum sowie den Schmerz einer jungen Generation, die ihrer Zukunft düster entgegenblickt. Ohne dass das despektierlich klingen soll, muss ich gestehen, dass ich froh bin, genau zu diesem Zeitpunkt in Hongkong gewesen zu sein, denn den Kampfgeist dieser Stadt werde ich nicht vergessen.
Ebenso sehr, wie ich meinen ehemaligen Mitstudierenden Durchhaltevermögen und Energie für die kommende Zeit wünsche, zweifle ich stark an einer demokratischen Lösung des Konflikts, der immer noch andauert, auch wenn die westlichen Medien ihn längst vergessen zu haben scheinen. Solidarität ist daher alles, was ich Hongkong zum Abschied versprechen kann, denn ich habe die Wahl, „einfach“ zu gehen. Auf ein baldiges Wiedersehen!
Weitere Informationen
Das war Marie Funkes letzte „Post aus…Hongkong“! Sie war eine von elf Autorinnen und Autoren, die von ihren Auslandsstudienaufenthalten für campus.leben berichten bzw. berichtet haben.
Marie Funkes Post finden Sie hier auch auf Englisch.