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Lehrer, Förderer, Vorbild

80 plus 1: Akademische Feier und Ehrensymposium anlässlich des 80. Geburtstags von Professor Jürgen Kocka

23.05.2022

Am 22. April 2022 bei der Geburtstagsfeier: Der Jubilar Prof. Dr. Jürgen Kocka (r.) mit Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dekanin des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften, und Universitätspräsident Prof. Dr. Günter M. Ziegler.

Am 22. April 2022 bei der Geburtstagsfeier: Der Jubilar Prof. Dr. Jürgen Kocka (r.) mit Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dekanin des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften, und Universitätspräsident Prof. Dr. Günter M. Ziegler.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Er gehört zu den bekanntesten und prägendsten deutschen Historikern: Jürgen Kocka, langjähriger Professor für die Geschichte der industriellen Welt am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Freundinnen und Freunde, Wegbegleiter und ehemalige Studierende waren in den Goethesaal des Dahlemer Harnack-Hauses gekommen, um die wegen der Pandemie verschobene Feier zum 80. Geburtstag des Wissenschaftlers nachzuholen.

Im Mittelpunkt des Abends stand Kockas beeindruckendes Lebenswerk, seine außergewöhnliche wissenschaftliche Leistung, die über die Geschichtswissenschaft und akademische Zusammenhänge hinaus weite Kreise der Gesellschaft erreicht hat. Professor Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität, würdigte den Jubilar: In seiner herausragenden Bedeutung als Initiator, Organisator und Stichwortgeber der historischen Forschung habe Kocka für die Freie Universität, aber auch für das Fach Geschichte im Allgemeinen, viel getan.

Prof. Dr. Martin Sabrow, ehemaliger Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam.

Prof. Dr. Martin Sabrow, ehemaliger Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Als Festredner sprachen Martin Sabrow, Professor am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Weggefährte des Geehrten, und Professorin Eun-Jeung Lee, Dekanin des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität. Sie hoben Kockas Bedeutung für die Geschichtswissenschaft hervor. Als ehemaliger Student gratulierte Kai-Uwe Peter, Geschäftsführer des Sparkassenverbands Berlin.

Prof. Dr. Gunilla Budde, Historikerin an der Universität Oldenburg.

Prof. Dr. Gunilla Budde, Historikerin an der Universität Oldenburg.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Für sie und viele andere ist Jürgen Kocka bis heute ein wichtiger Lehrer und Förderer und in seiner intellektuellen Neugier und Offenheit, sachlichen Strenge und Diskussionslust ein Vorbild.

Kai-Uwe Peter, Geschäftsführer des Sparkassenverbands Berlin, Präsident der Schillergesellschaft und ehemaliger Student Kockas.

Kai-Uwe Peter, Geschäftsführer des Sparkassenverbands Berlin, Präsident der Schillergesellschaft und ehemaliger Student Kockas.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Eine ganze Generation von Historikerinnen und Historikern hat er ausgebildet, einige waren an diesem Abend anwesend.

Geburtstagsgeschenk für den Jubilar ...

Geburtstagsgeschenk für den Jubilar ...
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

... überreicht von Kolleginnen, Kollegen und Wegbegleitern.

... überreicht von Kolleginnen, Kollegen und Wegbegleitern.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Über Jürgen Kocka

Gibt man „der Berliner Sozialhistoriker“ bei Google ein, ist Jürgen Kocka der erste Treffer. Der am 19. April 1941 im heute tschechischen Haindorf geborene Historiker hat seit mehr als einem halben Jahrhundert die westdeutsche und internationale Sozialgeschichte, aber auch die Geschichts- und Sozialwissenschaften in Berlin maßgeblich geprägt.
Er studierte und promovierte 1967 an der Freien Universität, an die er 1988 als Professor für die Geschichte der Industriellen Welt zurückkehrte. Sein Interesse und seine Publikationen galten immer wieder den sozialen Formationen der Industriegesellschaft: Angestellte, Arbeiterschaft, Bürgertum, zunehmend in vergleichender und transnationaler Perspektive.
Nach 1990 half er das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung zu gründen und war 2001 bis 2007 Präsident des WZB. 1999 erhielt er den Leibniz-Preis, 2011 den Holberg-Preis. Intellektuelle Neugier und Anregungskraft blieben ihm erhalten, auch bei seinen laufenden Arbeiten zur Geschichte der Arbeit und des Kapitalismus.
Von Paul Nolte
Podiumsdiskussion mit (v.l.n.r.) Franziska Augstein, Nina Verheyen, Barbara Stollberg-Rilinger und Shulamit Volkov, moderiert von Paul Nolte.

Podiumsdiskussion mit (v.l.n.r.) Franziska Augstein, Nina Verheyen, Barbara Stollberg-Rilinger und Shulamit Volkov, moderiert von Paul Nolte.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Geschichtsschreibung im Wandel

Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Freien Universität, leitete eine Podiumsdiskussion über die öffentliche und politische Rolle der Geschichtswissenschaft. Wer die Geschichte erforscht, kann jeden Tag besichtigen, dass nichts bleibt, wie es ist. Doch wie wandelt sich die Geschichtsschreibung selbst? Wie nehmen Historikerinnen und Historiker an der Öffentlichkeit teil? Das wollte Paul Nolte zunächst von den Podiumsmitgliedern Franziska Augstein, Shulamit Volkov, Barbara Stollberg-Rilinger und Nina Verheyen wissen.

Die israelische Historikerin Shulamit Volkov, eine Wegbegleiterin Jürgen Kockas, erinnerte an die 1970er Jahre. In dieser Zeit in Israel deutsche Geschichte zu lehren, sei Aufklärungsarbeit gewesen. „Dafür brauchte man sogar ein bisschen Mut.“ Wer damals Geschichte studiert hat, habe das Gefühl gehabt, etwas Politisches zu machen, etwas, das für die Öffentlichkeit eine Bedeutung hat.

Versuchung der Vereinfachung

Das zweite Thema der Podiumsrunde war der Umgang der Geschichtswissenschaft mit den Medien – und umgekehrt. Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Berliner Wissenschaftskollegs, gab zu bedenken, dass Medien einer anderen Logik folgten als die Wissenschaft. Gefragt seien weniger das Entwickeln neuer Fragestellungen oder Ambivalenzen als klare Antworten. Glücklicherweise, so Stollberg-Rilinger, widerstünden die meisten Historiker der Versuchung der Vereinfachung und beschrieben historische Zusammenhänge auch in journalistischen Medienformaten differenziert und ausgewogen.

Ein weiteres Thema waren identitätspolitische Strömungen in der Geschichtswissenschaft. Franziska Augstein äußerte sich kritisch: Wer die Vergangenheit nur daraufhin betrachte, inwieweit das, was man in der Gegenwart erlebt, durch die Vergangenheit unterstützt wird, der betreibe eine „falsche“ Art der Geschichtsbetrachtung. „Denn dann ist Geschichte nur noch Dienerin unserer eigenen Empfindungen und Ideologien in der Gegenwart“, sagte die Journalistin.

Barbara Stollberg-Rilinger wandte ein, dass durch den Eintritt von bisher nicht repräsentierten Gruppen in die Geschichtswissenschaft große blinde Flecken des Fachs überhaupt erst sichtbar geworden seien – Frauen oder People of Colour etwa. Mögliche Perspektivverzerrungen würden sich nach und nach von selbst erledigen, wenn diese Gruppen im geschichtswissenschaftlichen Betrieb eine angemessene Repräsentation erhielten.

Gratwanderung zwischen Politik und Geschichtswissenschaft

Die Historikerin Nina Verheyen verwahrte sich gegen den Eindruck, frühere Geschichtswissenschaft sei frei von Identitätspolitik gewesen. Das Gegenteil habe etwa die Bürgertumsforschung gezeigt. Neu seien heute lediglich ein anderes Bewusstsein für die politische Dimension von Geschichte und die Strategien, damit umzugehen. Wissenschaft in ihrer politischen Kraft fruchtbar zu machen, sei eine schwierige „Gratwanderung zwischen dumpfer Politik und im besten Sinne aufklärerischer Geschichte“.

Abschließend stellte Barbara Stollberg-Rilinger fest: Solange Historikerinnen und Historiker ein gemeinsames wissenschaftliches Ethos teilten, sei alles andere „eigentlich kein Problem“. Dazu gehörten Sachlichkeit, die andere Seite zu hören, bereit zum Zweifel zu sein und das Einerseits–Andererseits als Methode des Abwägens. „Auf dieser Grundlage kann man sich über fast alle inhaltlichen Positionen streiten.“

Jürgen Kocka mit Ehefrau Dr. Urte Kocka, langjährige Geschichtsdidaktikerin an der Freien Universität.

Jürgen Kocka mit Ehefrau Dr. Urte Kocka, langjährige Geschichtsdidaktikerin an der Freien Universität.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der Jubilar selbst verfolgte die Diskussion aus dem Publikum. Zuvor hatte er an alle Laudatorinnen und Laudatoren ein persönliches Wort gerichtet und die vielen freundlichen ihm gewidmeten Worte mit Humor genommen: „Ich bin eitel genug, um mich über Komplimente zu freuen – aber nicht eitel genug, sie alle zu glauben.“ Der Freien Universität dankte er für die Möglichkeiten, die sie ihm über die Jahre eröffnet habe. „Es ist schön, diesen 80. oder vielmehr 81. Geburtstag hier in Dahlem feiern zu können.“