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Chronist, Musiker, Urgestein, Freund

Am 3. September ist Siegward Lönnendonker im Alter von 83 Jahren gestorben. Ein Nachruf von Jochen Staadt

15.09.2022

Siegward Lönnendonker, geboren am 18. April 1939 in Rheydt/Rheinland, gestorben am 3. September 2022 in Berlin. Das Bild wurde im November 2018 im Universitätsarchiv aufgenommen.

Siegward Lönnendonker, geboren am 18. April 1939 in Rheydt/Rheinland, gestorben am 3. September 2022 in Berlin. Das Bild wurde im November 2018 im Universitätsarchiv aufgenommen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Siegward Lönnendonker war ein FU-Urgestein. Seit 1958 gehörte er zur Freien Universität. Er begann 1958 Physik und Mathematik zu studieren und wechselte 1963 zur Soziologie, Politologie und Psychologie. In dieser Zeit begann auch sein politisches Engagement in der Deutsch-Israelischen Studiengruppe (DIS), deren Bundesvorsitzender er 1964 war. Er war Mitinitiator einer Unterschriftensammlung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel.

Ohne je einen Aufnahmeantrag gestellt oder Mitgliedsbeiträge gezahlt zu haben, gehörte er zum Berliner Sozialistischen Studentenbund (SDS), da er mit dessen Vorsitzendem Hubertus Hüppauf seit 1962 in einer Wohngemeinschaft lebte und von ihm in alle Diskussionen und Aktionen des Verbandes einbezogen wurde.

Bassist und Band-Manager

Keine Nebensache war in dieser Zeit für Lönnendonker der Jazz. Als Bassist und Manager der „Metropolitan Jazz-Band“ kannte man ihn in den angesagten Berliner Musiklokalen, und das beträchtliche Salär der amerikanischen Soldaten-Clubs sorgte für die finanzielle Absicherung eines ausgiebigen Studiums. Kurzeitig half er als Ersatzmann der Drafi-Deutscher-Band aus.

Der damals erworbene und über Jahrzehnte gespielte „Fender Jazz Bass“ brachte ihm in den 1990er Jahren einen satten Gewinn ein. Zu den großen Festen in seiner Wohnung kamen damals recht unterschiedliche Menschen aus dem Universitäts- und Musikermilieu. Siegward Lönnendonker spielte bei diesen Gelegenheiten auf seinem Flügel auch klassische Stücke, während im Nebenzimmer alte Micky-Maus-Filme liefen.

Aufbau des APO-Archivs

Seit Mitte der 1960er Jahre sammelte Lönnendonker Flugblätter von den FU-Mensatischen auf. Das war der Beginn seiner späteren Berufskarriere.

Nach dem Soziologiediplom, das er mit einer Arbeit über den Berliner SDS erwarb, holte ihn Theo Pirker 1970 als Assistent an das Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung (ZI 6), das sich damals in einem großen Backsteinbau mit endlosen Fluren in der Babelsberger Straße befand. Dort begann Lönnendonker mit dem Aufbau eines Flugblattarchivs, das sich später zu einer historisch einzigartigen Dokumentensammlung über die 68er-Studentenbewegung und Außerparlamentarische Opposition entwickelte. Heute gehört es als Teilarchiv „Apo und soziale Bewegungen“ zum Universitätsarchiv der Freien Universität.

Chronist der Freien Universität Berlin

Anlässlich des 25-jährigen Gründungsjubiläums der Freien Universität gaben Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker 1973 im Auftrag von FU-Präsident Rolf Kreibich den ersten Band der Dokumentation „Hochschule im Umbruch – Gegengründung wozu“ heraus. Bis 1990 erschienen sechs Bände dieser „FU-Dokumentation“, die neben umfangreichen Zeittafeln wichtiges Schriftgut aus FU-Gremien und der zeitgenössischen Presseberichterstattung über die Freie Universität enthalten.

Als Beifang der FU-Dokumentation erschien 1977 von Siegward Lönnendonker und Tilman Fichter im Rotbuchverlag die „Kleine Geschichte des SDS“. Diese „kleine Geschichte“ wurde ein Bestseller, dem die Autoren mehrere erweiterte Neuauflagen folgen ließen. Die sechste erweiterte Fassung erschien 2021 unter dem Titel „Genossen! Wir haben Fehler gemacht: Der Sozialistische Deutsche Studentenbund 1946–1970. Der Motor der 68er Revolte“. Aus der kleinen Geschichtserzählung von 1977 mit 200 Seiten war nun eine große mit 572 Seiten geworden.

Mitbegründer des des Forschungsverbunds SED-Staat

Mitte der 1970er Jahren war Lönnendonker Redaktionsmitglied der linken undogmatischen Zeitschrift „Neuer Langer Marsch“, die sich kritisch mit dem „realen Sozialismus“ im Umland West-Berlins auseinandersetzte und Stimmen aus der dortigen Opposition ebenso Raum gab wie Emigranten aus anderen Ostblockstaaten. Folgerichtig gehörte Siegward Lönnendonker 1992 zu den Gründern des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität.

Seine Dissertation war 1989 zum Thema „Freie Universität Berlin – Gründung einer politischen Universität“ erschienen. In ihr wird die erneute Gleichschaltung der Berliner Universität, diesmal unter kommunistischem Vorzeichen, detailliert beschrieben. Aus den Zeitzeugengesprächen mit FU-Gründungsstudenten entstand 1988 auf Initiative von Karol Kubicki (Matrikelnummer 1 der Freien Universität) und Siegward Lönnendonker ein Diskussionskreis von Gründern der Universität und ehemaligen Achtundsechzigern, der in einem gegenseitigen Lernprozess zur Versöhnung früher unvereinbarer Positionen führte.

Die Alumni der ersten und zweiten Generation waren sich darin einig, die 68er-Genossen hätten Fehler gemacht und ihre älteren hochschulpolitischen Widersacher auch. Später verband sie im regelmäßig tagenden „Malteserkreises“– benannt nach dem Ort ihrer Zusammenkünfte am FU-Standort Lankwitz in der Malteserstraße – eine jahrelange Freundschaft und ein ergiebiger Austausch über die unterschiedlichen Erfahrungen an der Freien Universität. Die im „Malteserkreis“ entstandene Überlegung einer fachbezogenen Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität haben Karol Kubicki und Siegward Lönnendonker als Herausgeber in sieben Bänden realisiert.

Am Abend des 2. September 2022 verschickte Siegward Lönnendonker eine Rundmail, in der er Freunde und Bekannte darum bat, durch Rezensionen zur Verbreitung des SDS-Geschichtsbuches „Genossen wir haben Fehler gemacht“ beizutragen. Er hatte noch viel vor. Sein Sohn Lukas traf ihn am Abend noch guter Dinge an. In der Nacht ist Siegward Lönnendonker im Alter von 83 Jahren gestorben.

Weitere Informationen

Im April 2019 erschien anlässlich von Siegward Lönnendonkers 80. Geburtstag das campus.leben-Porträt „Der Archivar ist der Star“. 2015, anlässlich von 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, erschien der campus.leben-Artikel „Luftpost nach Jerusalem“: Darin wird auch Siegward Lönnendonker erwähnt und ist auf Fotos abgebildet; er war einer von 12 Studierenden der Freien Universität Berlin, die 1963 auf einer vom Bundesverband der Deutsch-Israelischen Studiengruppe organisierten zweimonatigen Reise nach Israel waren.