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Antrittsvorlesung von Karen Nölle: Ein Gespür für das Weibliche

Die Übersetzerin und Autorin hat die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung am Peter Szondi-Institut inne

07.11.2022

Karen Nölle (l.) und Olga Radetzkaja, Vorstandsmitglied des Deutschen Übersetzerfonds.

Karen Nölle (l.) und Olga Radetzkaja, Vorstandsmitglied des Deutschen Übersetzerfonds.
Bildquelle: Annette Leyssner

Die Übersetzerin und Autorin Karen Nölle hält im laufenden Wintersemester das Seminar »Vom Umgang mit Ungewohntem: Zugänge zum Übersetzen weiblicher Weltliteratur«, für das sich Studierende bewerben konnten. Ihre Antrittsvorlesung als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung stand unter der Überschrift „Es könnte auch ganz anders sein. Vom Umgang mit dem Ungewohnten“. Angesiedelt ist die Professur, die vom Deutschen Übersetzerfonds mit ins Leben gerufen wurde, am Peter Szondi Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin.

Sensibilität sei wichtig beim Übersetzen, sagt Karen Nölle und lädt das Publikum im vollbesetzen Foyer der Landesvertretung Schleswig-Holsteins zum Nachdenken über Übersetzungskultur ein. Ein Beispiel für unsensible Übersetzung: Im Buch „Woman. An Intimate Geography“ von Natalie Angier sei aus der „large, beefy clitoris“ im Deutschen eine „zu groß geratene“ Klitoris geworden.

Das wäre Karen Nölle vermutlich nicht passiert. „Ein Gespür für das Weibliche“ zeichne die Übersetzerin, Lektorin und Autorin aus, sagte Sandra Gerken, Bevollmächtigte des Landes Schleswig-Holstein beim Bund, anlässlich von Karen Nölles Antrittsvorlesung am 31. Oktober als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung.

Nölle, die in Niederkleveez am Dieksee in der Holsteinischen Schweiz lebt, ist bekannt für ihre aufmerksame Übersetzungsarbeit. „Feministische Nuancen in Texten fallen bei ihr nicht unter den Tisch“, betont Gerken.

Ebenfalls hervorzuheben sei Nölles Vielseitigkeit. Dies betreffe sowohl die Genres, die sie übersetzt – von Biografien über Science Fiction bis zu Naturprosa – wie auch ihre sonstigen Beschäftigungsfelder. Unter anderem leitet sie Seminare zur Textarbeit, ist Mitbegründerin der Sommerakademie der Bücherfrauen und lektoriert Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Niederländischen, Schwedischen und Norwegischen. Sie ist Autorin unter anderem eines Reiseführers über Korsika und eines literarischen Reiseführers über die Elbe.

Sorgsam übersetzen aus Verantwortungsbewusstsein

Als ihr Spezialgebiet sieht Nölle die Literatur von Frauen. „Phallozentrismus“ sei immer noch ein Problem in manchen Verlagen, die Autorinnen gelegentlich wenig ernst nähmen. Nölle zeigte als Beispiel Buchdeckel für Werke der Pulitzer Preisträgerin Elizabeth Strout, die in der deutschen Ausgabe Wellen und Strände zierten. „Urlaubslektüre, nicht ernst zu nehmen“, diese Botschaft strahle die Aufmachung von Büchern von Frauen oftmals aus. So sei das auch in einem von Ray-Güde Martin herausgegebenen Werk „Tigerin und Leopard“. In den Beiträgen dieser Anthologie sei Erotik nur angedeutet. Auf dem Titel der deutschen Ausgabe sind nackte Frauenhintern mit Body-Painting zu sehen.

An der optischen Aufmachung von Büchern kann Nölle nichts ändern, wohl aber darauf achten, dass sie sorgsam übersetzt werden. „Der Text und sein Autor, seine Autorin sind an mich ausgeliefert“ schildert Nölle die Verantwortung, der sie gerecht zu werden versucht. „Lautgebilde werden zerstört und müssen neu errichtet werden.“ Es gehe darum, in diesem Prozess „den Zauber nicht entwischen zu lassen“. Übersetzende dürften nicht einfach übertragen – „Was steht denn da? Ach ja, im Deutschen heißt das xy.“ Sondern es sei zu bedenken, dass das Gemeinte zwischen den Zeilen stehen könnte. Man müsse sich immer prüfen: „Stimmt das Bild, das ich mir im Kopf gemacht habe? Könnte es nicht anders sein?“, sagt Nölle.

Dazu sollte man sich seiner Prägungen bewusst sein, sagt die Übersetzerin. So habe die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux geschrieben: „Wenn ich dem Jahr 1958 auf den Grund gehen will, muss ich die Zerstörung aller Interpretationen akzeptieren, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben.“

Auf eine besondere Eigenschaft von Karen Nölle hob Olga Radetzkaja ab, selbst Übersetzerin, außerdem Vorstandsmitglied des Deutschen Übersetzerfonds: deren meist „außergewöhnlich gute Laune“ – ein so herausstechendes Merkmal, dass es sogar Aufnahme in ihren Wikipedia-Eintrag gefunden hat. „Und gute Laune wird sie im Wintersemester sicher auch an der Freien Universität verbreiten“, erwartet Olga Radetzkaja.

Schritt für Schritt vortasten

Ziel der Schlegel-Gastprofessur ist nicht die praktische Ausbildung von Übersetzer*innen, wie sie an Dolmetscherinstituten geleistet wird. In Karen Nölles Seminar „Vom Umgang mit Ungewohntem: Zugänge zum Übersetzen weiblicher Weltliteratur“ werden die Studierenden die Kunst des literarischen Übersetzens einüben. „Wenn du deine Tradition verlässt“, schreibt eine von Nölles Lieblingsautorinnen, Ursula K. Le Guin, „musst du dich Schritt für Schritt alleine vortasten; wenn du versuchst, deine eigenen Erkenntnisse zu formulieren, verlierst du die wunderbare Geläufigkeit.“

Ähnlich tastend sollen im Seminar Texte von Autorinnen übersetzt und diese Fassungen anschließend mit vorliegenden Übersetzungen verglichen werden.