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„Literarisch übersetzen heißt, sich selbst zu übersetzen“

Die chinesisch-britische Schriftstellerin und Regisseurin Xiaolu Guo verknüpft in ihrer Antrittsvorlesung Fragen des literarischen Übersetzens mit ihrer eigenen Lebens- und Migrationsgeschichte

10.11.2022

Xiaolu Guo, derzeit Gastprofessorin am Peter Szondi-Institut, signiert ihre Bücher nach der Antrittsvorlesung.

Xiaolu Guo, derzeit Gastprofessorin am Peter Szondi-Institut, signiert ihre Bücher nach der Antrittsvorlesung.
Bildquelle: Dennis Yücel

Literarisches Übersetzen ist weit mehr als das Übertragen von Wörtern einer Sprache in eine andere. Es ist ein komplexer, schöpferischer Vorgang, der zwischen Kulturen vermittelt und Neues entstehen lässt. „Es ist ein Prozess, der immer auch die Lebensgeschichte der Übersetzer beinhaltet“, sagt Xiaolu Guo. „Übersetzen ist die Fähigkeit, eine Brücke zu bauen und am Ende auch sich selbst politisch und sozial zu übersetzen.“

„Ich nehme die Metaphern und Mythen des Ostens, werfe sie in einen Topf mit denen des Westens“, sagt Xiaolu Guo. „Und koche etwas Neues.“

Die britisch-chinesische Autorin und Filmemacherin hat im Wintersemester 2022/23 die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin inne. In ihrem Seminar Translating the East geht sie der Frage nach, wie westliche Leser sich ostasiatischer Literatur nähern können und wie Migration und Mehrsprachigkeit das literarische Übersetzen aus ostasiatischen Sprachen prägen.

Seit ihrer Übersiedlung 2002 nach London schreibt sie auf Englisch

Xiaolu Guo wurde 1973 in China geboren. Die ersten Lebensjahre wuchs sie zunächst bei einem Bauernpaar, später bei ihren Großeltern in einem abgelegenen Fischerdorf in der südöstlichen Provinz Zhejiang auf. Zu ihren Eltern, einem traditionellen Tuschezeichner und einer Aktivistin der Roten Garde, fand sie erst mit sechs Jahren. Später studierte sie an der prestigeträchtigen Pekinger Filmakademie und begann zu schreiben; sie veröffentlichte sechs Bücher auf Chinesisch.

Seit ihrer Übersiedelung im Jahr 2002 nach London schreibt sie auf Englisch. Der internationale Durchbruch gelang ihr 2008 mit dem Roman „Kleines Wörterbuch für Liebende“. Er handelt von einer jungen Chinesin, die zum Englischlernen nach London kommt, und ist komplett in gebrochenem Englisch verfasst. „Das Englisch“, sagt Guo, „das ich damals sprach.“

Verknüpft ihre Arbeit mit der eigenen Lebens- und Migrationsgeschichte

In ihrer Antrittsvorlesung gibt die Autorin, Regisseurin und Übersetzerin einen Einblick in ihr Denken – und zeigt, wie untrennbar ihre Arbeit mit ihrer eigenen Lebens- und Migrationsgeschichte zwischen Ost und West verknüpft ist.

Ihre Antrittsvorlesung beginnt Guo mit einem Blick auf das chinesische Schriftzeichen für das „Selbst“. Es ist aus zwei Zeichen zusammengesetzt: Wurzel und Mensch. Der Mensch ist dabei mit zwei Beinen versinnbildlicht.

„Im chinesischen Schriftsystem gibt es nicht nur die phonetische Komponente“, sagt Guo. „Es gibt die graphische Bedeutungsebene, das Piktogramm.“ So setze sich das Adjektiv „hell“ aus den Zeichen für Sonne und Mond zusammen. Das Wort für „Gedanken“ oder „Wahrnehmung“ werde durch die Zeichen für „Feld“ und „Herz“ repräsentiert. „Diese Bedeutungsebene muss in der Übersetzungsarbeit mitbedacht werden“, sagt Guo. „Aber es geht nicht darum, die eine treffende Entsprechung zu finden. Übersetzung ist niemals eins zu eins, niemals festgeschrieben.“

Vermitteln, nicht glätten

Worte und ihre Bedeutung lassen sich nicht einfach übertragen. Die chinesische Sprache sei tief vom taoistischen Denken geprägt, das sich stark vom christlichen Welt- und Menschenbild unterscheide, sagt Xiaolu Guo. Diese Unterschiede zeigt Guo etwa in der Malerei auf. Sie stellt die Arbeiten ihres Vaters, traditionelle Tuschezeichnungen, denen der klassischen europäischen Malerei gegenüber – und maoistischen Propagandaarbeiten, die wiederum von klassischer europäischer Malerei inspiriert wurden.

„Die kommunistische Partei forderte meinen Vater in den 1950er Jahren auf, Bilder von Menschen zu malen, die glücklich der Revolution entgegenströmen“, sagt Guo. „Doch selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er es nicht tun können.“ Als in China ausgebildeter Maler habe ihr Vater sich niemals mit Menschendarstellungen auseinandergesetzt. „Es ist der westliche Blick, der den Menschen ins Zentrum stellt“, sagt Guo. „Der chinesische Blick geht in die Natur.“ Die Kommunistische Partei hatte für derlei Betrachtungen kein Verständnis. 1957 wurde Guos Vater zur Zwangsarbeit in einem Lager verurteilt.

Guo plädiert dafür, Brüche wie diese in der Übersetzungsarbeit sichtbar zu machen. Die Übersetzung solle vermitteln, aber nicht glätten. „Man muss den Lesefluss auch mal unterbrechen“, sagt Guo. „Lesen soll auch eine Herausforderung sein und Sprache eine Schwierigkeit, die dazu zwingt, innezuhalten und zu reflektieren.“

In ihrem Seminar wird Guo diesen Fragen in den kommenden Monaten gemeinsam mit Studierenden nachgehen. Auf dem Programm stehen die Lektüre von Werken ostasiatischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller – sowie eigenständige Übersetzungsversuche.