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Natur in Sprache übersetzen

Die Schriftstellerin Esther Kinsky wird am 27. November mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet – ein Gespräch mit Literaturprofessorin Anne Fleig

21.11.2022

Esther Kinsky war im Wintersemester 2017/18 August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung am Peter Szondi-Institut der Freien Universität. Das Foto zeigt sie bei ihrer Antrittsvorlesung im November 2017.

Esther Kinsky war im Wintersemester 2017/18 August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung am Peter Szondi-Institut der Freien Universität. Das Foto zeigt sie bei ihrer Antrittsvorlesung im November 2017.
Bildquelle: Tobias Bohm

„Wandernd, beobachtend, sich vortastend aus anfänglichem Fremdsein, sehen Kinskys Erzählerinnen Menschengeschichten nur als Teil der sie umgebenden Naturgeschichte“, sagt Paul Ingendaay über das Werk Esther Kinskys. Der Autor und Kritiker – als von der Kleist-Preis-Jury bestimmte Vertrauensperson in diesem Jahr für die Preisentscheidung verantwortlich – wird Esther Kinsky auszeichnen und die Laudatio halten. Im Wintersemester 2017/18 hatte die Schriftstellerin am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik und Übersetzung inne. Anne Fleig, Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität und Präsidentin der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, erläutert im Interview, wie Natur und Sprache in Esther Kinskys Werk zusammenfinden.

Frau Professorin Fleig, was ist das Besondere an Esther Kinsky und ihrem Werk?

Literaturwissenschaftsprofessorin Dr. Anne Fleig ist Präsidentin der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft.

Literaturwissenschaftsprofessorin Dr. Anne Fleig ist Präsidentin der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft.
Bildquelle: Miriam Klingl

Da ist zum einen ihre ganz besondere Aufmerksamkeit für Sprache und sprachliche Formen. Esther Kinsky hat als Übersetzerin begonnen, aus dem Englischen, dem Polnischen und Russischen. Später hat sie sich auch das Ungarische angeeignet.

Dieser Sprachenkosmos, in dem sie zu Hause ist, hat sie auf eine ganz besondere Weise sensibilisiert, auch für ihre erste Sprache, das Deutsche. Heute steht ihr eigenes literarisches Werk im Vordergrund – doch das Übersetzen hat vielfach Spuren hinterlassen.

Zum anderen sind da die Naturbegegnungen. Als Erzählerin ist Esther Kinsky immer draußen, immer unterwegs. Sie bewegt sich nicht nur durch verschiedene Sprachräume, sondern auch durch verschiedene Naturräume, seien es Gebirge oder Flusslandschaften. Häufig sind das zugleich Grenzgebiete.

Denken Sie da an bestimmte Werke?

Ich denke beispielsweise an ihren Roman „Am Fluss“ aus dem Jahr 2014. Die Erzählerin wandert einen Fluss am Stadtrand von London entlang, dort, wo die Stadt übergeht in die Peripherie, ein merkwürdig schroffes, raues Gelände. Und natürlich denke ich auch an „Rombo“, ihren jüngsten Roman, der dieses Jahr auch auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand.

Um was geht es in diesem Roman?

Esther Kinsky verarbeitet darin ein Erdbeben im italienischen Friaul im Jahr 1976, das damals die gesamte Region verwüstet hat. Spuren davon sind bis heute sichtbar – oder spürbar, vor allem in den Erinnerungen der Menschen vor Ort. Die Erzählstimme verwebt die Stimmen dieser Menschen ausschnitthaft mit eigenen Beobachtungen der Landschaft.

Ein besonderes Charakteristikum des Textes ist, wie die Natur gelesen wird. Tiere, Pflanzen, Steine, das Licht. Sehr eindrücklich sind etwa die Beschreibungen unmittelbar vor dem Erdbeben. Wie war das Licht? Wie haben die Tiere reagiert? Überlebende schildern auf berührende Weise, wie sie diese Momente erlebt haben.

Was kann uns eine Geschichte über ein Erdbeben aus den 1970er Jahren über unsere eigene Zeit sagen?

Der Roman zeigt, wie ein gewaltiges Naturgeschehen am Ende auch gesellschaftliches Leben verändert. Man erlebt, wie das Friaul, eine ohnehin verlassene Region, nach dem Erdbeben von noch größerer Abwanderung betroffen ist – nur noch die Alten bleiben –, und was das mit der Region macht. Das ist angesichts der aktuellen Klimadebatte sicherlich eine wichtige Lektion.

Über den ökologischen Bezug hinaus zeigt der Roman aber, denke ich, vor allem, wie Erinnerung funktioniert und welchen Beitrag Literatur dazu leisten kann. Der Roman bewahrt die Erinnerung der Menschen.

Könnte man sagen, dass die Natur die Protagonistin in diesem Roman ist?

Am Ende ist es vielleicht doch eher die Sprache selbst! Sprache und Natur stehen bei Esther Kinsky beständig in einem produktiven Spannungsverhältnis. Man könnte sagen, dass es am Ende darum geht, Natur in Sprache zu übersetzen. Das ist das Besondere an ihrem Werk: dieser ungeheure Wortreichtum, die Suche nach Worten, um Natur beschreiben zu können. Esther Kinsky bereichert und hinterfragt damit immer wieder die deutsche Sprache.

Die Fragen stellte Dennis Yücel

Weitere Informationen

Die Preisverleihung findet am Sonntag, 27. November 2022, um 11 Uhr, im Rahmen einer Matinée im Deutschen Theater statt.