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Die Traube und die Rose

Der Kunstwissenschaftler Victor Stoichita zeigte in der Hegel Lecture am Dahlem Humanities Center auf, wie das Denken des Philosophen von der Symbolik der Malerei geprägt wurde

16.12.2022

Victor Stoichita gab die Hegel Lecture 2022 auf Einaldung des Dahlem Humanities Center der Freien Universität Berlin.

Victor Stoichita ist einer der renommiertesten Kunsthistoriker der Gegenwart. Geboren in Bukarest lehrte der heute emeritierte Professor an Universitäten in ganz Europa und schrieb Grundlagenwerke der Kunstgeschichte.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Das Inkarnat — die Farben, die in der abendländischen Malerei verwendet werden, um nackte, helle Haut darzustellen — beschäftigt die Kunst seit Jahrhunderten. Als der Kunstwissenschaftler Victor Stoichita in der Rostlaube der Freien Universität ans Podium tritt, beginnt er zunächst mit den Ausführungen eines mittelalterlichen Benediktinermönchs. Minutiös gibt dieser in der jahrhundertealten Schrift Anweisungen, wie die Farben zu mischen seien, um den idealen Hautton zu treffen. „Das Inkarnat ist für diesen Mönch das grundlegende Geheimnis des künstlerischen Handwerks“, erläutert Stoichita. „Und viele hundert Jahre später hebt Hegel das Problem von der technisch-praktischen auf eine philosophische Ebene.“

Victor Stoichita ist einer der renommiertesten Kunsthistoriker der Gegenwart. Geboren in Bukarest lehrte der heute emeritierte Professor an Universitäten in ganz Europa und schrieb mehrere Grundlagenwerke der Kunstgeschichte, übersetzt in zahlreiche Sprachen. Auf Einladung des Dahlem Humanities Center der Freien Universität hielt er am 1. Dezember 2022 die diesjährige Hegel Lecture.

Die Kunstgeschichte des Inkarnats in der Ästhetik von Hegel

In seinem Vortrag „Das Ikonographisch-Unbewusste des Georg Wilhelm Friedrich Hegel“ setzte er sich mit der Frage auseinander, welche Rolle die Kunstgeschichte des Inkarnats in der Ästhetik des Philosophen spielt. „Für Hegel ist das Inkarnat der Inbegriff aller Farben“, sagt Stoichita. „Der Gipfel der Malerei.“

Die zentrale Rolle spielt dabei eine Passage aus Hegels Werk, in der der Philosoph den „Schein innerer Belebung“ des Inkarnats beschreibt, ihren „glanzlosen Seelenduft“. Um der Farbe näher zu kommen, bedient sich Hegel zweier Metaphern. Er vergleicht ihren Schein mit dem von Rosen und dem von Trauben.

Victor Stoichita erklärt das „Das Ikonographisch-Unbewusste des Georg Wilhelm Friedrich Hegel“ in seinem Vortrag anhand von zwei Gemälden.

Die Geschichte der Rose und der Traube — und ihrer engen Verbindung mit der Geschichte des Inkarnats bei Hegel — erklärte Stoichita am Beispiel zweier Gemälde.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Stoichita fragte nun, warum es gerade diese beiden Metaphern sind, die Hegel wählt. „Meine These ist, dass Hegel durch die ikonographische Geschichte der Traube und der Rose in der Malerei geleitet worden ist“, sagt Stoichita. „Und dass er sich dessen nicht bewusst war.

Die Geschichte der Rose und der Traube — und ihrer engen Verbindung mit der Geschichte des Inkarnats — erklärte Stoichita vor allem am Beispiel zweier Gemälde. Zunächst der Venus von Urbino von Tizian. Eine nackte junge Frau liegt ausgestreckt auf einem Bett. In ihrer rechten Hand hält sie ein Rosenbüschel, mit der linken bedeckt sie ihre Scham. Stoichita zeigte auf, wie Tizian in dem Gemälde die Farbe der Rosen in Bezug zur Hautfarbe der Venus setzt, mit der Symbolik der Rosen spielt, die in einer langen Tradition auf die Schönheit der Frau verweist.

Diskurs über das Wunder der Menschwerdung

Die Symbolik der Trauben veranschaulichte Stoichita am Werk „Die Jungfrau mit dem Jesuskind“ von Lucas van Leyde aus dem Jahr 1522, dem linken Flügel eines Diptychons, das in der Alte Pinakothek in München hängt. Im Vordergrund, auf einem Sims, ist eine Weinrebe mit Trauben zu sehen. „Die Trauben, als Ursprung des Weines, stehen in der christlichen Tradition für den Opferleib Christi“, sagt Stoichita. „Wir haben es hier mit einem Diskurs über das Wunder der Menschwerdung zu tun.“ Und gerade das — die Inkarnation — sei es, woher die Farbe der hellen Haut in der Malerei ihren Namen habe.

„Hegel war sich all dessen nicht bewusst“, sagt Stoichita. „Es liegt im Halbdunkel seines ikonographischen Gedächtnisses.“ Es sei die lange Geschichte der abendländischen Malerei, die den Philosophen in seinem Schreiben leitete, schloss Stoichita seinen Vortrag. Studierende und Promovierende hatten am Folgetag bei einem Workshop mit Victor Stoichita die Gelegenheit, Einblicke in seine Methodik und seine Arbeit zur Konstruktion des Anderen in der Frühen Neuzeit zu erhalten.

Weitere Informationen

Die Hegel Lecture des Dahlem Humanities Center ist einer der Höhepunkte des akademischen Jahres der Freien Universität und wird von weltweit herausragenden Persönlichkeiten der Geisteswissenschaften gehalten, zu denen auch die amerikanische Philosophin Judith Butler, der indische Kulturtheoretiker und Harvard-Professor Homi K. Bhabha sowie der deutsche Soziologe Armin Nassehi von der Ludwig-Maximilians-Universität München gehörten.