Springe direkt zu Inhalt

180 Küsse am Tag – Emine Sevgi Özdamar hielt die Siegfried Unseld Vorlesung an der Freien Universität Berlin

Die große Theaterfrau und Schriftstellerin erzählte von ihrer türkischen Kindheit, der Annäherung an Westeuropa und den Toten in ihrem Leben

05.01.2024

Emine Sevgi Özdamar (rechts) und Anne Schenderlein, Geschäftsführerin des Dahlem Humanities Center, das die Siegfried Unseld Vorlesung ausrichtet.

Emine Sevgi Özdamar (rechts) und Anne Schenderlein, Geschäftsführerin des Dahlem Humanities Center, das die Siegfried Unseld Vorlesung ausrichtet.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Emine Sevgi Özdamar trat ganz in Schwarz ans Mikrofon. Dort legte sie ohne Eile Mantel und Tasche ab, nahm gemächlich das Manuskript heraus und lächelte ein paar Augenblicke still, während der Schalk nur so aus den Augen blitzte.

Hielt die sechste Siegfried Unseld Vorlesung: Emine Sevgi Özdamar

Hielt die sechste Siegfried Unseld Vorlesung: Emine Sevgi Özdamar
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Schließlich, nachdem auf diese schlichte wie wirkungsvolle Weise die etwas nüchterne Universitätsatmosphäre aus dem Hörsaal der Silberlaube vertrieben worden war, fing sie an: „Ick sitze da un’ esse Klops / uff eemal klopp’s.“

Das Klops-Lied, uff balinarisch, gesprochen von einer in Ostanatolien geborenen Autorin, die vor fast 50 Jahren an die Tür der Berliner Volksbühne klopfte, um das Brecht-Theater zu erlernen, und die im Jahr 2022 mit dem Büchner-Preis geehrt wurde, dem renommiertesten Literaturpreis im deutschen Sprachraum. „Ick kieke, staune, wundre mir, / uff eemal jeht se uff die Tür.“

Literaturwissenschaftsprofessorin Anne Fleig und Theaterwissenschaftsprofessor Matthias Warstat vom Dahlem Humanities Center führten in die Siegfried Unseld Vorlesung ein.

Literaturwissenschaftsprofessorin Anne Fleig und Theaterwissenschaftsprofessor Matthias Warstat vom Dahlem Humanities Center führten in die Siegfried Unseld Vorlesung ein.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Es sind einige Türen aufgegangen im Leben der Emine Sevgi Özdamar, die am 28. November 2023 auf Einladung des Dahlem Humanities Center die sechste Siegfried Unseld Vorlesung an der Freien Universität hielt. Am weitesten vielleicht zwischen Literatur und Theater, zwischen deutscher und türkischer Sprache, worauf Germanistikprofessorin Anne Fleig und Matthias Warstat, Professor für Theaterwissenschaft, in ihren Einführungen hinwiesen.

Dr. Jonathan Landgrebe, Vorstandsvorsitzender des Suhrkamp Verlags.

Dr. Jonathan Landgrebe, Vorstandsvorsitzender des Suhrkamp Verlags.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Taschentücher im Freiluftkino

Da Özdamar nicht nur die Autorin des großen Lebensromans „Ein von Schatten begrenzter Raum“, sondern auch Schauspielerin ist, beließ sie es nicht beim Berlinern, sondern sang gar ein Lied für die geschätzt 300 Gäste im Hörsaal in der Silberlaube. Es war ein Liebeslied aus der Zeit, als sie mit ihrem Bruder Ali Schallplatten auflegte, „wenn wir Lust hatten zu weinen“. Düş ben gibi bir aşka, sadakat ne imiş gör: „Falle in eine Liebe, wie ich, und sieh, was Treue heißt.“

Geweint wurde in Özdamars Kindheit nicht nur vor dem Grammophon, sondern auch im Freiluftkino, wo italienische und französische Filme zu sehen waren. Der Platzanweiser verteilte die allseits benötigten Taschentücher.

Zu Hause rauchte der Vater wie die europäischen Filmstars, erst ein paar Wochen wie Jean Gabin, bis er einen Film mit Rossano Brazzi sah und zu Brazzi wechselte. Die Mutter brachte „in ihrem Gesicht“ Silvana Mangano und Anna Magnani mit nach Hause, und das Kind Sevgi, damals noch nicht Emine gerufen, vermischte die fremdartigen Namen der Schauspieler mit ähnlich klingenden türkischen Wörtern. So kam es zu „Rossano Ein-bisschen-besser“ und „Wisch-mich-ab Mangano“ und zu einer allmählichen Annäherung mit Westeuropa: Sevgi las der Großmutter, die nicht lesen und schreiben konnte, Romane vor. Zusammen weinten sie um Emma Bovary und sorgten sich um Frau und Kinder von Robinson Crusoe, während Europa für Sevgi noch in weiter Ferne lag.

Brecht-Bewunderin Özdamar ging zum Brecht-Schüler Besson

Ganz nah sind in der Familie indes die Toten. Denn bei allem Witz transportierte Özdamars Vortrag auch die Trauer und den Verlust. 1971 erlebte die Türkei einen Militärputsch, Menschen wurden wegen Wörtern gefoltert, ins Gefängnis gesperrt, hingerichtet. Özdamar wurde unglücklich in der türkischen Sprache: „Meine türkischen Wörter wurden krank“, sagte sie. Wegen einer Reportage über hungernde Bauern wurde Özdamar vier Wochen auf einem Polizeirevier festgehalten. „Man sagt, in fremden Ländern verliert man die Muttersprache. Aber man kann die Muttersprache auch in seinem eigenen Land verlieren, die Wörter unter der Zunge verstecken, vor manchen Wörtern Angst bekommen.“

1976 verließ die ausgebildete Schauspielerin die Türkei und ging als Benno Bessons Regieassistentin nach Ost-Berlin. Heilung ihrer in der Militärdiktatur krank gewordenen Wörter fand Özdamar bei Bertolt Brecht. „Brecht hatte vor uns eine körperliche Erfahrung mit dem Faschismus gehabt. Jetzt halfen seine Wörter mir, die gerade mit dem Faschismus eine körperliche Erfahrung machte.“

Vorlesung vor vollem Saal: die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hielt Ende November die Siegfried Unseld Vorlesung an der Freien Universität Berlin.

Vorlesung vor vollem Saal: die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hielt Ende November die Siegfried Unseld Vorlesung an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Schreiben als Zeitverlangsamung

Das sprunghafte, episodische Erzählen, das Slapstickartige und die Lust am Zitieren, aus Liedern, Familienanekdoten und Brecht-Versen – all das las Özdamar in gelassenem Tonfall und doch mit sprühendem Witz, während sie immer klarer auf die Toten in ihrem Leben zusteuerte und das Vermögen der Literatur, ihnen ein zweites Leben zu schenken. „Ich rief durch das Schreiben die Menschen meiner Kindheit, die nicht mehr lebten, meine Toten, ins Gedächtnis zurück, und sie fingen an, in der deutschen Sprache zu leben.“ Die Zeit anzuhalten, den Moment festzuhalten war im Leben nicht möglich. Beim Schreiben schon.

Nach der Vorlesung: Empfang im Foyer der Silberlaube.

Nach der Vorlesung: Empfang im Foyer der Silberlaube.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Das Theater habe dafür andere Vorteile gegenüber dem Schreiben, wie Özdamar mit ihrem unnachahmlichen Lächeln erzählte: „Deine Theaterkollegen küssen dauernd deine Wange, zweimal morgens, zweimal abends.“ In Frankreich gibt es sogar je drei Küsse zur Begrüßung und zum Abschied, was bei 30 Kolleginnen und Kollegen schon mal 180 Küsse täglich macht. Beim Romanschreiben sei es einsamer: „Da fehlen die Küsse.“

Am Folgetag der Vorlesung bot ein Werkstattgespräch mit Emine Sevgi Özdamar Studierenden und Promovierenden die Möglichkeit, die Themen des Vortrags im persönlichen Austausch mit der Autorin zu vertiefen. Die Siegfried Unseld Vorlesung ist eine Kooperation zwischen dem Dahlem Humanities Center der Freien Universität Berlin und dem Suhrkamp Verlag und findet alle zwei Jahre an der Freien Universität statt.