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„Wach und wachsam bleiben“

Auf dem Waldfriedhof Dahlem wurden die menschlichen Überreste bestattet, die auf dem Gelände der Freien Universität Berlin seit 2015 gefunden wurden

28.03.2023

In stillem Gedenken: (v. l. n. r.) Israel Kaunatjike, Dr. Christoph Rauhut (verdeckt), Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Dotschy Reinhardt, Ana-Maria Trăsnea, Daniel Botmann, Prof. Dr. Günter M. Ziegler.

In stillem Gedenken: (v. l. n. r.) Israel Kaunatjike, Dr. Christoph Rauhut (verdeckt), Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Dotschy Reinhardt, Ana-Maria Trăsnea, Daniel Botmann, Prof. Dr. Günter M. Ziegler.
Bildquelle: Michael Fahrig

„Wir kennen nicht die Namen, nicht die Gesichter, nicht die Identitäten und nicht die Geschichten der einzelnen Menschen, die wir heute bestatten. Es sind viele Menschen. Sie alle sind Opfer von Verbrechen im Namen der Wissenschaft geworden. Darüber darf kein Gras wachsen. Wir haben die Verpflichtung des Erinnerns.“

Prof. Dr. Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin.

Prof. Dr. Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Michael Fahrig

Professor Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin, eröffnete auf dem Waldfriedhof Dahlem die Trauerveranstaltung. Bei einer stillen Feier, ohne religiöse Rituale und nicht-eurozentrisch, wurde der Toten gedacht, deren Überreste – 16.000 Knochenfragmente in fünf hölzerne Gebeinekisten gelegt – im Anschluss bestattet wurden.

Gemeinsam hatten sich die Freie Universität Berlin, die Max-Planck-Gesellschaft – als Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft –, das Landesdenkmalamt Berlin, der Zentralrat der Juden, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und weitere Opferverbände darauf geeinigt, dass es keine weiteren Untersuchungen der Knochen geben soll: Weil diese invasiv wären, und weil eine Spezifizierung der Opfer nach bestimmten Gruppen letztlich die rassistischen Methoden der Vergangenheit reproduzieren würde, wie der Universitätspräsident erläuterte.

Trauergäste: (v. l. n. r.) Prof. Dr. Günter M. Ziegler, Daniel Botmann, Dotschy Reinhardt, Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Dr. Christoph Rauhut.

Trauergäste: (v. l. n. r.) Prof. Dr. Günter M. Ziegler, Daniel Botmann, Dotschy Reinhardt, Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Dr. Christoph Rauhut.
Bildquelle: Michael Fahrig

In fünf hölzernen Gebeinekisten wurden die Knochenfragmente bestattet.

In fünf hölzernen Gebeinekisten wurden die Knochenfragmente bestattet.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien an der Trauerfeier und Bestattung war groß.

Das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien an der Trauerfeier und Bestattung war groß.
Bildquelle: David Ausserhofer

Zum Hintergrund
Die 16.000 Knochenfragmente, die am 23. März 2023 auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem bestattet wurden, waren seit 2015 bei Bauarbeiten und anschließenden wissenschaftlichen Grabungen auf dem Gelände der Ihnestraße 22 gefunden worden.

Eine Analyse der mit den Grabungen beauftragten Archäologieprofessorin Susan Pollock und ihrem Team hat ergeben, dass die Knochen von mindestens 54 Menschen aller Altersgruppen sowie männlichen und weiblichen Geschlechts stammen. Die Knochenfragmente stehen im Zusammenhang mit den kolonialen Sammlungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWIA). Es sei nicht auszuschließen, so Susan Pollock bei der Vorstellung ihres Abschlussberichts im Februar 2021, dass auch ein Teil der Knochen aus dem nationalsozialistischen Verbrechenskontext stammt.

Das Gebäude Ihnestraße 22, in dem heute das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der im Jahr 1948 gegründeten Freien Universität Berlin untergebracht ist, beherbergte von 1927 bis 1945 das KWIA. An das Institut, das mit sogenannter Rassenforschung an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt war, hatte etwa der KZ-Arzt Josef Mengele Körperteile von ermordeten Häftlingen aus Auschwitz geschickt.

Mehr als 200 Menschen nehmen Abschied

Das öffentliche Interesse und die Aufmerksamkeit der Medien war schon im Vorfeld groß: Eine digitale Veranstaltung an der Freien Universität Berlin im Februar 2021, bei der die Untersuchungsergebnisse zu den Knochenfunden öffentlich vorgestellt worden waren, hatten fast 300 Interessierte verfolgt.

Nun stehen mehr als 200 Menschen auf dem Vorplatz der Kapelle auf dem Waldfriedhof, viele mit Blumen in den Händen. Interessierte und Engagierte, die aus den Medien von der Trauerfeier erfahren haben, Mitglieder von Opferverbänden, Vertreterinnen und Vertreter der Bezirks- und Landespolitik, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Beschäftigte der Freien Universität, Journalistinnen und Journalisten, Fernsehteams und Fotografen.

Wer an diesem Märzvormittag das Wort ergreift, nimmt bei der Erinnerung an die Vergangenheit die Zukunft in den Blick – und die Gesellschaft in die Pflicht.

Den missbrauchten Menschen Achtung entgegenbringen

Dotschy Reinhardt, Vertreterin des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.

Dotschy Reinhardt, Vertreterin des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Bildquelle: Michael Fahrig

Dotschy Reinhardt vertritt an diesem Tag den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Sie findet eindrückliche Worte: „Nach ihrem Eintreffen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden Frauen, Männer und Kinder der unmenschlichen Prozedur von Selektion und Registrierung unterworfen. Wer nicht sofort in den Gaskammern ermordet wurde, wurde zu einer Nummer degradiert, die man den Gefangenen auf den Arm – bei Säuglingen auf den Oberschenkel – tätowierte. Man raubte den Menschen den Namen und die Persönlichkeit; jeder Anspruch auf menschliche Würde wurde ihnen aberkannt. In den Augen der SS waren die Häftlinge bloße Arbeitssklaven und Objekte medizinischer Versuche.“ Die Körperteile von Toten wurden zu wissenschaftlichen „Präparaten“, aus denen – nach Kriegsende – Beweise für die Gräuel der Nationalsozialisten wurden.

Dotschy Reinhardt zitiert den Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose: „Es ist ein Gebot des Respekts, den missbrauchten Menschen, denen die Würde abgesprochen und das Leben genommen wurde, Achtung entgegenzubringen und die Erinnerung an ihr Schicksal zu bewahren.“

Unverzichtbare Rechte und unantastbare Würde des Menschen

Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft.

Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft.
Bildquelle: Michael Fahrig

„Zeit, viel Zeit“ habe die Max-Planck-Gesellschaft gebraucht, „um das Schweigen über die Vergangenheit und vor allem über ihre eigene Vorgeschichte zu überwinden“, sagt Professor Ulman Lindenberger, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft. Als sie 2001 die Aufarbeitung ihrer Geschichte – die der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – aufnahm, habe sie eine Verpflichtung für die Zukunft formuliert: „Die unverzichtbaren Rechte und die unantastbare Würde des Menschen setzen der Freiheit der Wissenschaft Grenzen.“ Lindenberger schließt: „Für die Max-Planck-Gesellschaft kann ich sagen: Wir werden nicht vergessen. Wir werden erinnern. Dies wird auch künftig unser Auftrag sein und bleiben.“

Aus der Mitte der Gesellschaft

Dr. Christoph Rauhut, Direktor des Landesdenkmalamtes Berlin.

Dr. Christoph Rauhut, Direktor des Landesdenkmalamtes Berlin.
Bildquelle: David Ausserhofer

Christoph Rauhut, Direktor des Landesdenkmalamts Berlin, mahnt: „Für den Fund aus der Ihnestraße trägt unsere Gesellschaft in ihrer Gänze die Verantwortung.“ Denn: „Die Menschen, deren sterbliche Überreste wir heute beisetzen, waren Mitglieder unserer Gesellschaft. Die Verbrechen, die an ihnen im Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik begangen wurden, übten Menschen unserer vergangenen Gesellschaft aus. Und das durchaus mit dem Wissen vermeintlich unbescholtener Bürgerinnen und Bürger und Institutionen.“

Wach und wachsam bleiben

Israel Kaunatjike, Vertreter der Herero in Deutschland.

Israel Kaunatjike, Vertreter der Herero in Deutschland.
Bildquelle: Michael Fahrig

Israel Kaunatjike, 1947 in Namibia geboren, lebt seit mehr als 30 Jahren in Berlin und arbeitet als Bildungsreferent zum Schwerpunkt deutsche Kolonialgeschichte in Deutsch-Südwestafrika über die Zeit der Apartheid bis ins heutige Namibia. Er nimmt an diesem Tag an der Trauerfeier auf dem Waldfriedhof Dahlem teil.

„Als Vertreter der Herero in Deutschland berührt es mich emotional sehr, dass wir heute an unsere Vorfahren denken und sie auf ihrer letzten Reise begleiten. Die Vermessung von Knochen der Herero, Nama und Rehobother, die auch im Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik stattfanden, bestätigen noch einmal die menschenverachtende Moral im Namen der Wissenschaft. Das Mahnmal, das hier entstehen wird, soll uns daran erinnern, dass wir heute schon wieder Antisemitismus und Rassismus, Antiziganismus und Antiromaismus erleben. Die Erinnerungsstätte soll für uns ein Symbol sein: dass wir stets wach und wachsam bleiben müssen! Mögen alle diese Toten endlich zur Ruhe kommen.“

Diese Worte hatte Israel Kaunatjike ursprünglich auf dem Friedhof sprechen wollen. Zum großen Bedauern der Hochschulleitung hat dieser Wunsch die für die Organisation der Trauerfeier und Bestattung zuständigen Personen nicht rechtzeitig erreicht. campus.leben zitiert deshalb aus dem Redemanuskript, das Israel Kaunatjike der Universität nachträglich zur Verfügung gestellt hat.

Die Geschichten der Opfer erzählen – gegen das Vergessen

Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Bildquelle: David Ausserhofer

Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, dankt den anwesenden Trauergästen: „Sie wirken daran mit, dass die Geschichten der Opfer weiter- oder gar zum ersten Mal erzählt werden.“ Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, sagt anlässlich der Gedenkveranstaltung und Bestattung: „Trauer fragt nicht nach Herkunft, Konfession und Zugehörigkeit. Unsere Trauer von heute über die Verbrechen der Vergangenheit erschafft die kollektiven Gedenkorte von Morgen. Ich bin der Freien Universität Berlin, dem Landesdenkmalamt Berlin und der Max-Planck-Gesellschaft dankbar für den würdevollen Umgang der Knochenfunde aus dem Kontext des Kaiser-Wilhelm-Instituts und begrüße das Anliegen, aus diesem Anlass einen Lern- und Gedenkort für die Zukunft zu gestalten.“

„Machen Sie die heute begrabenen Menschen nun wieder dort sichtbar, wo die Mehrheitsgesellschaft forscht und sich bildet“, so appellierte Daniel Botmann an die Wissenschaft: „Verankern Sie Ihre Geschichten fest im Lehrplan und lassen Sie sie in den lebendigen Diskurs fließen.“

Dass das an der Freien Universität in Lehre und Forschung gelebt wird, zeigen zwei Beispiele: Im Projekt „Geschichte der Ihnestraße 22“, das auf eine Initiative von Studierenden der Freien Universität zurückgeht und von der promovierten Historikerin Manuela Bauche betreut wird, werden – im engen Austausch mit Selbstorganisationen der relevanten Opfergruppen und von einem wissenschaftlichen Beirat eng begleitet – die Geschichte des Gebäudes erforscht und ein Erinnerungskonzept für den Außen- und Innenbereich erarbeitet. Pandemiebedingt verschiebt sich die Ausstellungseröffnung ins Jahr 2024. Im Masterstudiengang Public History, der für die Arbeit in Gedenkstätten, politischer Bildung und Museen ausbildet, geht es um die Suche nach neuen Formen für die öffentliche Darstellung von Geschichte und die Erinnerung an sie.

Der Grabstein auf dem Waldfriedhof Dahlem erinnert an die Opfer von Verbrechen im Namen der Wissenschaft.

Der Grabstein auf dem Waldfriedhof Dahlem erinnert an die Opfer von Verbrechen im Namen der Wissenschaft.
Bildquelle: Michael Fahrig

„Ständiges Erinnern und kontinuierliches In-Erinnerung-Halten über Generationen hinweg“, so formuliert Universitätspräsident Günter M. Ziegler den gesellschaftlichen Auftrag. Er sagt: „Unsere Aufgabe ist es, dem Wachsen des Grases beharrlich und beständig entgegenzuwirken.“

Weitere Informationen

Bitte beachten Sie: Die englische Fassung des Artikels steht in Kürze zur Verfügung.

Trauerreden (es gilt das gesprochene Wort)

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