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Die Zukunft auf dem Schirm

Jahrzehntelang war das Fernsehen das Leitmedium der Gesellschaft. Jetzt hat es den Anschein, als verliere es gegenüber dem Internet an Bedeutung, vor allem bei jungen Zuschauern.

13.10.2016

Sitzen ein 14-Jähriger und ein 29-Jähriger zusammen vor dem Fernseher. Wie der Witz weitergeht? Das muss erst noch erforscht werden. Vielleicht einigen sie sich auf eine Sendung wie die ZDF-Show Neo Royal, vielleicht auf Fußball. Wahrscheinlicher ist es, dass der 29-Jährige das TVProgramm bestimmt und der 14-Jährige sich nebenbei sein eigenes Programm im Internet macht. Dass er bei Snapchat ein paar Clips von Freunden ansieht, hinterher einige Empfehlungen bei Instagram checkt und bei You-Tube vorbeischaut, weil seine Lieblingskanäle aktualisiert worden sind.

Wer wird im Kaumpf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer gewinnen? Das Internet oder das klassische Fernsehen?

Wer wird im Kaumpf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer gewinnen? Das Internet oder das klassische Fernsehen?
Bildquelle: photocase/allzweckjack https://www.photocase.de/fotos/1746732-binge-watching-1-mensch-jugendliche-mann-photocase-stock-foto

Warum sollten ein 14-Jähriger und ein 29-Jähriger überhaupt zusammen vor dem Fernseher sitzen? Weil sie in vielen Studien, die Fernseh- und Internetaktivitäten messen, zur gleichen Altersgruppe gezählt werden. Zum Beispiel in der ARD-ZDF-Online-Studie, mit der die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender erfassen, wie ihre Zuschauer die multimediale Konkurrenz im Internet nutzen.

2015 ergab die Studie, dass 98 Prozent der „jungen Menschen“ mit Internetanschluss oder Smartphone Videos im Netz anschauen. Sie waren täglich 187 Minuten im Internet, während sie nur 144 Minuten fernsahen. Die Altersgruppe gewöhne sich daran, täglich „Bewegtbildangebote“ im Internet zu nutzen. Sind die Tage des klassischen Fernsehens gezählt?

Martin Emmer, Kommunikationswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, sieht die Zukunft des Fernsehens nicht ganz so schwarz. Gemeinsam mit Joachim Trebbe und einem vierköpfigen Team untersucht er „Konvergenz von Fernsehen und Internet aus Angebots- und Nutzungsperspektive“. Konvergenz lässt sich mit Annäherung oder Verschmelzen übersetzen, die Forscher gehen also nicht von einem Duell aus, bei dem am Ende nur noch einer aufrecht steht.

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt läuft bis 2017, derzeit sind die Wissenschaftler noch mit der Bestandsaufnahme beschäftigt. Und die ist schwierig genug, wie Martin Emmer und Christian Strippel, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projekts, erzählen.

Neue Muster sind schwer erfassbar

Da ist das Problem mit den Altersgruppen: „Der Umgang mit den Medien verändert sich mit jeder neuen Schülergeneration, also alle vier bis fünf Jahre. Unsere Studenten erzählen, dass sie schon die Mediennutzungsmuster ihrer jüngeren Geschwister gar nicht mehr verstehen“, sagt Emmer.

Diese spezifischen neuen Muster erfassen viele Studien nicht. „In Deutschland sind die jüngeren Altersgruppen so klein, dass sie statistisch in der Masse der Babyboomer und Rentner untergehen.“ Da ist das Problem mit dem Gedächtnis: „Frage ich Teilnehmer, wie viel sie gestern ferngesehen haben, können sie sich problemlos erinnern. Aber wer weiß schon, wie viele Filme er im Internet gesehen hat und wie lange?“ erläutert Strippel. Videos spielen sich bei Facebook automatisch ab, bei YouTube klickt man nach einigen Sekunden weiter, das Urlaubsvideo der Nachbarin wertet man gar nicht als Fernsehen.

Snapchat, Instagram, YouTube: Das klassische Fernsehen hat durch das Internet reichlich Konkurrenz bekommen.

Snapchat, Instagram, YouTube: Das klassische Fernsehen hat durch das Internet reichlich Konkurrenz bekommen.
Bildquelle: istockphoto.com/We-Ge

Twittern beim Tatortschauen

Und da ist das Problem mit der Aufmerksamkeit: „Die unglaublich hohe Reichweite des Fernsehens entsteht, weil nur erfasst wird, ob der Fernseher angeschaltet ist. Aber nicht, ob die Zuschauer tatsächlich zusehen.“ Viele ließen den Fernseher zwar laufen, seien aber gleichzeitig im Internet. Und twittern zum Beispiel parallel den Tatort, sagt Strippel, der mit zwei Kolleginnen eine Vorstudie zu diesem Phänomen des „Second Screen“ gemacht hat.
Die Nutzer widmen ihre Aufmerksamkeit zwei Bildschirmen – meistens Fernseher und Smartphone. Das Ergebnis der Studie: Die Medien konkurrieren zwar um die Blicke der Zuschauer, zugehört wird aber weiter dem Fernseher.

Derzeit gebe es noch keine Methode, mit der erfasst werden kann, wie viel „Bewegtbild“ tatsächlich im Internet konsumiert wird und auf welchen Plattformen. Noch schwieriger ist es zu untersuchen, welche Inhalte die Zuschauer durch das jeweils andere Medium ergänzen – und warum.
Doch obwohl die Wissenschaftler annehmen, dass viel mehr Menschen im Netz fernsehen als die Reichweite besagt, steht das klassische TV nicht schlecht da, wie Strippel zusammenfasst: „Viele Befragte schalten als erstes den Fernseher an, wenn sie nach Hause kommen. Erst, wenn sie dort nichts Interessantes finden, suchen sie im Internet.“ Es deute sich aber an, dass jüngere Generationen diese Gewohnheit ablegen, sagt Emmer. Ihre emotionale Bindung an das Fernsehen sei viel geringer als bei Älteren.

Fernsehen strukturiert den Alltag

Gewohnheiten sind aber auch abhängig von Lebensphasen. So könnte es sein, dass die heutigen Schüler später doch das klassische lineare Fernsehen bevorzugen. Weil es dem Alltag Struktur gibt: 20 Uhr – Tagesschau. Weil manche Inhalte nur live funktionieren: Niemand schaut Fußball in der Mediathek. Und weil Shows und Events ein „Lagerfeuergefühl“ vermitteln, wie Strippel es nennt: Sie schaffen eine Gemeinschaft mit anderen und Erlebnisse, über die man sich am nächsten Tag unterhalten kann.

Auf diese Stärken sollten sich die Sender besinnen, meint er. Die Struktur des Fernsehens habe so starke Gewohnheiten geprägt, dass die Nutzer sie sogar aufs Internet übertragen. Deshalb arbeiten die erfolgreichsten YouTuber mit festen Veröffentlichungszeiten – weil ihre Abonnenten meckern, wenn zur gewohnten Sendezeit kein frisches Video online ist.

Das Phänomen des Second Screen: Fernsehen und nebenher im Netz surfen, die Sendung online kommentieren oder twittern.

Das Phänomen des Second Screen: Fernsehen und nebenher im Netz surfen, die Sendung online kommentieren oder twittern.
Bildquelle: Primus Inter Pares

Löst YouTube das klassische Fernsehen ab?

YouTube ist andererseits ein gutes Beispiel für die Stärken des Internets. Die Videoplattform ist bei jüngeren Schülergenerationen das erfolgreichste Medium und wird völlig anders genutzt als das Fernsehen, sagt Emmer: „Mit den Clips wird Identitätsarbeit gemacht: Wer als erster etwas Cooles entdeckt, ist wichtig.“
Die Exklusivität der Fundstücke macht den Reiz des Internets aus, sagt Emmer: „Jeder wird zum Jongleur seiner eigenen Informationen.“ Deshalb seien Plattformen wie Snapchat oder Instagram bei Jugendlichen so erfolgreich: Eigentlich sind sie soziale Messenger, mit denen man zusätzlich Videos sehen und empfehlen kann. Wollen die Zuschauer der Zukunft also auch im Fernsehen kurze Clips? Wird es interaktive Sendungen geben? Binge-Watching-Nächte, also exzessives stundenlanges Gucken im ZDF? Wohl kaum, denn wer Lust auf solche Formate hat, sucht im Netz.

Wer dagegen ohne eigenes Zutun unterhalten oder informiert werden möchte, wird wohl auch in Zukunft ein lineares Programm einschalten, das dann vielleicht mehr Shows und Sport zeigt. Dieser Konsum eines vorbereiteten Programms könnte zum Definitionskriterium von „Fernsehen“ werden, wenn es „Fernseher“ nicht mehr gibt, sagt Emmer.

Durch die Digitalisierung werden die Angebote für audiovisuelle Inhalte immer vielfältiger und die Zuschauer werden sie immer spezifischer nutzen: „Die digitale Welt saugt das Fernsehen auf.“ Wenn Fernsehen und Internet verschmelzen, stellt das allerdings das derzeitige System infrage. Passt das neue Fernsehen noch in den Rahmen, der dem Rundfunk in Deutschland politisch und juristisch vorgegeben ist? Oder müssen die öffentlich-rechtlichen Sender sogar Internet machen, um ihren Auftrag zu erfüllen, also relevant zu bleiben, viele Menschen zu erreichen und verschiedene Meinungen abzubilden?

Die Forscher der Freien Universität untersuchen auf der Mikro-Ebene einzelne Sendungen und deren Nutzung durch die Zuschauer. Das Ergebnis: Beinahe ausschließlich die öffentlich-rechtlichen Sender experimentieren mit neuen Formaten. Emmer sagt: „Sie wissen, sie müssen dran bleiben. Oft kollidiert das aber mit ihren behördenartigen Strukturen.“ Im zweiten Projektteil werden die Wissenschaftler deshalb Senderverantwortliche und Programmentwickler einbeziehen.

Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen umdenken

Das enge Korsett des Rundfunkstaatsvertrages definiert Rundfunk als „linearen Informations- und Kommunikationsdienst für die Allgemeinheit und zum zeitgleichen Empfang von Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen“. Weichen die Sender davon ab, geraten sie immer häufiger in Konkurrenz und Rechtsstreitigkeiten mit anderen Anbietern, zum Beispiel den Presseverlagen, die nicht von der Rundfunkgebühr profitieren, im Internet aber ähnliche Inhalte anbieten. „Spätestens wenn die technische Grenze zwischen Rundfunk und Internet zusammenbricht, müssen wir uns Gedanken machen, ob wir nicht anstelle des ,Rundfunks‘ bestimmte Inhalte finanzieren wollen“, sagt Emmer. Er würde eine Förderung des unabhängigen Journalismus in allen Medien befürworten.

Doch ein Problem wird sich dadurch nicht lösen lassen: Früher, als es nur das lineare Fernsehprogramm gab, war es beinahe unmöglich, nicht ab und zu Informationen oder demokratische Bildung aufzuschnappen. Im Internet lassen sich entsprechende Formate viel einfacher umgehen.

Hier fallen die neuen Gewohnheiten ins Gewicht: Wenn die Eltern keine Nachrichten schauen, werden die Kinder es später auch nicht tun. Martin Emmer sieht die Lösung in staatlicher Regulierung: „Auch in der digitalisierten Welt sollte man die Anbieter verpflichten, Informationen oder Bildungsformate anzubieten, wenn sie eine privilegierte Position in der Öffentlichkeit haben möchten.“

Christian Strippel ist überzeugt, dass Medienkompetenz in Zukunft wichtiger sein wird als je zuvor. Und zwar nicht nur für 14-Jährige: „Wenn ein Lehrer – oder auch ein Wissenschaftler – sagt, ihn interessiere nicht, was im Internet angesagt sei, ist das ein Armutszeugnis. Wer beeinflussen möchte, wie Jugendliche Medien nutzen, braucht einen eigenen Zugang zu ihrer Nutzungsrealität und ihrer Ästhetik.“

Die Wissenschaftler

Martin Emmer: Wenn Fernsehen und Internet verschmelzen, wird das derzeitige System der öffentlich-rechtlichen Sender infrage gestellt.

Martin Emmer: Wenn Fernsehen und Internet verschmelzen, wird das derzeitige System der öffentlich-rechtlichen Sender infrage gestellt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Seit 2015 arbeitet Christian Strippel in dem DFG-Projekt „Die Konvergenz von Fernsehen und Internet aus Angebots- und Nutzungsperspektive“.

Seit 2015 arbeitet Christian Strippel in dem DFG-Projekt „Die Konvergenz von Fernsehen und Internet aus Angebots- und Nutzungsperspektive“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Prof. Dr. Martin Emmer

Martin Emmer ist seit 2011 Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Mediennutzung am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Kommunikationspolitik für die digitale Gesellschaft, der Entwicklung der politischen Online-Kommunikation in Deutschland sowie der Nutzung mobiler Medien in Sub-Sahara Afrika. Er ist zudem einer der Projektleiter des DFG-Projekts „Die Konvergenz von Fernsehen und Internet aus Angebots- und Nutzungsperspektive“, das im Januar 2015 startete.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
Arbeitsstelle Mediennutzung
E-mail: martin.emmer@fu-berlin.de

Christian Strippel, M. A.

Christian Strippel ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Online- und Mediennutzungsforschung. Seit 2015 arbeitet und promoviert er in dem DFG-Projekt „Die Konvergenz von Fernsehen und Internet aus Angebots- und Nutzungsperspektive“.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
Arbeitsstelle Mediennutzung
E-mail: christian.strippel@fu-berlin.de