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„Debatten haben nur Sinn, wenn Leute voneinander lernen wollen“

Von der „Gelehrtenrepublik“ bis zum Internet-Forum: Die Wissenschaftlerin Anita Traninger und der Journalist Markus Hesselmann sprechen über den Wandel der Diskussionskultur

13.10.2016

Die Romanistin Anita Traninger hat sich mit Gelehrten-Debatten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit befasst. Markus Hesselmann moderiert als Online-Chefredakteur beim Berliner Tagesspiegel täglich Debatten im Internet und in den sozialen Medien. Wie haben Menschen früher miteinander diskutiert? Müssen wir mit den Möglichkeiten des Internets neu debattieren lernen? Ein Gespräch über Reichweite, shitstorms und die Verführungskraft der Rhetorik.

Die Romanistin Anita Traninger hat sich mit Gelehrten- Debatten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit befasst; Markus Hesselmann moderiert als Online-Chefredakteur beim Berliner Tagesspiegel täglich Debatten im Internet.

Die Romanistin Anita Traninger hat sich mit Gelehrten- Debatten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit befasst; Markus Hesselmann moderiert als Online-Chefredakteur beim Berliner Tagesspiegel täglich Debatten im Internet.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

fundiert: Im Sommer 2016 dominierte in den Medien ein Thema: Die sogenannte Burka-Debatte. Warum wurde die Frage der Vollverschleierung so wichtig und wieso taugte ein Stück Stoff zur Debatte?

Hesselmann: Die Flüchtlingsfrage konnte von konservativen Politikern damit auf ein Thema verengt werden: Auf Muslime und ihre angebliche Nicht-Integration, etwa von CSU-Politikern, die denken, sie wüssten, was das Volk denkt. Das ist, glaube ich, der Gedanke dahinter. Ich fürchte aber, es gibt auch eine Menge Journalisten, die denken, sie wüssten, wie das Volk und wie der Leser denkt. Die Gefahr bei solchen Alibi- Themen ist, dass sie sich von der Realität in Deutschland – wo es kaum vollverschleierte Frauen gibt – total abkoppeln.

Traninger: Ich glaube, bei der Konjunktur gerade dieses Themas spielt noch ein wenig mehr mit. Es hat auch etwas damit zu tun, dass die Burka ein visueller Index ist: Man hat plötzlich etwas, das man innerhalb einer Debatte anschauen und benennen kann. Ich finde vor allem in historischer Perspektive spannend, dass es argumentative Muster gibt, in die man sich einklinken kann. Es ist ja kein Zufall, dass es um Frauen geht. Bei einer Frau findet man offenbar nichts dabei zu sagen: „Zieh dich für mich aus!“ Das ist genau dieser Gestus, der gerade in Frankreich von der Polizei in Nizza bei der Durchsetzung des Burkini-Verbots durchexerziert wurde: „Zieh dich jetzt vor unseren Augen für uns aus.“ Das ist ein patriarchaler Herrschaftsdiskurs, der ganz leicht transferiert werden kann; ein Muster: Die Frau ist diejenige, auf die wir unsere Regulierungskompetenz konzentrieren können, weil es immer schon so war. Andererseits gibt es ja die Gender-Debatten, die hitzig geführt werden und in denen wir zu hören kriegen, wir hätten einen Gender-Wahn und einen Gender- Terror. Gleichzeitig kommt aus der konservativen Ecke: Frauen sind bei uns gleichgestellt, und Muslime sollen sich gefälligst anpassen. Hier müsste man fragen, um was es eigentlich geht? Was ist das eigentliche Thema?

fundiert: Was ist eigentlich das Thema?

Hesselmann: Die Burka-Debatte ist ein Versuch, das Thema Flüchtlinge irgendwie diskursiv zu kanalisieren und davon zu profitieren, entweder politisch oder publizistisch – oder vielleicht sogar aus einer gewissen Bequemlichkeit heraus. Es ist nicht unbedingt so, dass bewusste, ideologische Entscheidungen dahinterstecken. Oft ist es sowohl für den Politiker als auch für den Journalisten einfacher, sich an ein solches Thema dranzuhängen, das gerade Reichweite bringt, obwohl ich Reichweite nicht wirklich kritisch finde. Die eigentliche Diskussion, die zu führen ist, wäre aber: Wie schaffen wir Integration und vor allem Bildung, Bildung und nochmals Bildung?

Traninger: Die Frage ist auch, wie viele Debatten wirklich einen Gegenstand haben oder ob es nur darum geht, ein für sich genehmes Ergebnis zu erzielen. Ich glaube, wir vermischen immer ganz viele Aspekte, wenn wir über Debatten sprechen. Es gibt ganz sicher in Qualitätsmedien ein großartiges Niveau an Reflexion und Differenzierung. Aber ein Teil unserer Medien, sagen wir „der Boulevard“, hat zum Teil überhaupt kein Interesse daran. Und wir haben jetzt auch den riesigen Onlinebereich. Ganz viel, was dort in den Foren stattfindet, hat eine Ventilfunktion, Leute äußern ihr Unbehagen, ihre Wut. Ich glaube, dass wir verstärkt eine Debatte zweiter Ordnung brauchen über die Frage: Was heißt denn eigentlich Debatte heute? Es wird zwar immer gesagt, wir hätten Debatten, aber sobald jemand etwas sagt, was andere nicht gut finden, haben wir gleich einen „Shitstorm“. Das sind unsere Kategorien, zwischen denen wir uns derzeit bewegen. Wir müssten uns aber fragen: Wofür reden wir eigentlich miteinander? Geht es darum, dass man seine Meinung durchsetzt, oder gibt es ein gemeinsames Ziel?

Hesselmann: Ich habe bei Tagesspiegel-Online die Erfahrung gemacht, dass eine Debatte nur dann Sinn hat, wenn die Leute voneinander lernen wollen. Das muss eigentlich das Ziel einer Debatte sein. Wir haben mal eine Serie mit Themen aus unserer Nutzer-Community gemacht; Themen, von denen viele Journalisten denken: Das interessiert keinen. Doch diese Beiträge stießen auf eine hohe Resonanz, hatten bis zu 300 Kommentare und stießen tolle Debatten an. Debatten können also funktionieren! Viele Leute fordern ja inzwischen, diese „blöden Foren“ zu schließen. Das hielte ich aber für falsch. Wir Journalisten müssen uns damit schon Arbeit machen – und die ist nichts für unerfahrene Leute, die man oft mit der Moderation von Foren betraut, sondern eine journalistische Aufgabe.

Traninger: Ich glaube, diese Forderung, einfach etwas zu schließen, seien es Grenzen oder Foren, das ist eine geläufige Phantasie, die leider auch die Flüchtlings- Debatte prägt. Man tut damit so, als ob man Dinge ungeschehen machen könnte. Macht die Grenzen zu, dann ist wieder gut. Macht die Foren zu, dann ist es wieder gut. Die Hälfte der Briten dachte im Übrigen beim Brexit-Votum im Juni 2016 auch so: Lasst uns die Union verlassen, dann ist alles wieder gut.

fundiert: Wir leben in der Zeit des fundamentalen Medienwandels. Verändert sich dadurch auch die Debattenkultur?

Hesselmann: Früher gab es Leserbriefe. Die konnte man unter Umständen ignorieren oder mal eine nette Antwort aufsetzen. Das geht jetzt nicht mehr. Unsere Fehler werden uns nun direkt unter die Nase gerieben – was ich eine sehr gute Sache finde. Der Begriff Shitstorm wird aber zu oft und gerade in Deutschland viel zu schnell verwendet …

Traninger: ... es ist ja auch ein deutsches Wort. Den Ausdruck gibt es woanders nicht …

Hesselmann: … stimmt, ein kleines bisschen Kritik und es ist gleich ein Shitstorm. Ich denke, früher hat jemand wie der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis Kritik zu Hause mit sich allein ausmachen müssen. Er hat einen Stapel Briefe aus der Redaktion bekommen, Briefe von furchtbaren Menschen, Antisemiten – und er musste diesen Shitstorm allein in seinem stillen Kämmerlein ertragen. Heute kriegen wir es alle ab. Diese Öffentlichkeit hat aber auch ihre positiven Seiten; wir müssen nur lernen, damit umzugehen. Wir müssen bei Tagesspiegel-Online aber nicht auf jeden Kommentar, auf jeden Deppen, der da irgendwas hinhustet, eingehen. Leute, die tatsächlich eine Debatte nur stören oder ihren beleidigenden und oft rechtsextremen oder antisemitischen Kram loswerden wollen, die sollte man aus meiner Sicht auch sofort blockieren, sonst übernehmen die da die Hegemonie. Und umgekehrt sollten sich diejenigen, die diskutieren wollen, vernetzten und voneinander lernen und miteinander ins Gespräch kommen.

fundiert: Ist das eine neue Rolle für Journalisten, Debatten zu moderieren?

Hesselmann: Absolut. Der Unternehmer und Publizist Christoph Kappes hat einmal den schönen Satz gesagt, dass die sozialen Medien und die Debatten darin journalistisch zurückerobert werden müssen. Das ist unsere Aufgabe, da müssen wir Journalisten ran.

Traninger: Vielleicht hilft es, wenn wir in der Geschichte noch ein bisschen weiter zurückblicken. Der Medienwandel führt immer zu einem Kommunikationswandel und zu einem Aushandlungsprozess über neue Verfahren. Das war schon immer so, nur findet der Wandel jetzt in globaler Dimension statt und mit ungeahnter Geschwindigkeit. Die Journalisten der ersten großen Zeitschriften im 18. Jahrhundert, wie The Tatler (1709) oder The Spectator (1711) haben die Leserbriefe selbst geschrieben. Das hilft, weil man so natürlich die Debatten lenken und argumentative Linien herausarbeiten kann, die einem passen – und überhaupt zu Themen schreiben, die man für relevant hält. In diesem Sinne ist es ein back to the future, wenn man sich auf journalistischer Ebene selbst stärker einspeist ins Debattistische. Ich möchte aber gerne noch ein zweites Thema aufgreifen, nämlich die Frage der Erziehung. Wir sind auf Social-Media-Debatten schlecht vorbereitet, denn es gibt nur wenig Reflexion darüber, in welchen Modus des Schreibens, des Sagens wir uns da begeben. Ich glaube, dieser Aspekt wird in der Schulbildung vollkommen vernachlässigt. Und das müssen wir uns auch selbst ankreiden in der universitären Ausbildung. Die Schwierigkeit dabei ist, dass in diesem Modus Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf eine seltsame Weise verschmelzen und ein schwieriges Konglomerat bilden. Früher – das ist mal so ein grober Gegenbegriff –, hat man sich zusammengerissen, wenn man face to face mit einem Fremden sprach. Das hat Distanz hergestellt und Regeln der Zivilisation aufgerufen. Wenn man hingegen mit Freunden gesprochen hat, dann war das offener. Durch die sozialen Medien entstehen Situationen, in denen man so tut, als ob man face to face mit Freunden über Fremde spricht, diese sind aber zugleich mit am Tisch. Wir haben also Muster, die aus einer vertrauten Mündlichkeit kommen, aber jetzt im Schriftlichen eine Permanenz erhalten. Dann steht plötzlich etwas da im schriftlichen Modus, der früher reserviert war für überlegte und auch durch gewisse Schreibregeln regulierte Aussagen – ein Durcheinander von Aussagemöglichkeiten. Aber niemand lernt in der Schule: „Pass auf, wenn du einen Tweet schreibst, dann sieht das so und so aus, dann ist das die und die Gattung.“ Ich glaube, dass wir viel tun könnten, um ein Grundbewusstsein dafür zu schaffen, was man wie zu wem sagen kann.

Hesselmann: Ich habe im Moment den Eindruck, dass vor allem die Risiken von Kommunikation im Internet gesehen werden – gerade auch von Lehrern. Ich will nicht, dass man das Internet und soziale Medien blauäugig betrachtet, wir müssen auch auf die Probleme und berechtigten Sorgen reagieren. Aber ich habe manchmal den Eindruck, wir nehmen das Ganze nur noch als Risiko wahr, oft geht es nur um Internetsucht.

Traninger: Stimmt, wir haben selten eine positive Herangehensweise, aber es sind Basiskulturtechniken, mit diesen Medien umzugehen. Beim Thema Digitalisierung wird darüber gesprochen, wie man die Klassen ausstatten müsste, ob nicht jeder Schüler ein iPad haben sollte – und gleichzeitig werden Bedrohungsszenarien aufgebaut. Die Medienerziehung, die wir zurzeit haben, ist oftmals eine Problemmaschine.

Hesselmann: Soziale Medien sind ja auch ein künstlerisches Medium. Teju Cole, ein afroamerikanischer Autor, hat über Jahre literarische Tweets verfasst. Inzwischen ist er zu Facebook gewechselt.

Traninger: Twitter-Poetry ist inzwischen ein großes Feld.

Hesselmann: Das ist eine tolle Sache, und ich finde es unheimlich wichtig, dass solche Beispiele auch behandelt werden. So etwas könnte man im Literaturunterricht in der Schule durchnehmen, genauso wie an der Uni.

fundiert: Der derzeitige Medienwandel ist ja nicht der erste in der Geschichte. Auch der Buchdruck und die Rotationspresse hatten Einfluss auf die Kommunikation. Sie, Frau Traninger, haben sich ebenfalls mit dem Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in der Debattenkultur der Frühen Neuzeit befasst. Was kann man daraus für die Gegenwart lernen?

Traninger: In unserem Forschungsprojekt haben wir den Begriff der Unparteilichkeit im 17. und 18. Jahrhundert in der europäischen Gelehrtenkultur untersucht. Wir haben uns angeschaut, welche Debattenmuster an Universitäten vor und in dieser Zeit vorherrschten und was sich mit dem Aufkommen der periodischen Zeitschriften verändert hat. Das ist nämlich genau das Medium, das den großen Debattenwandel dieser Jahre hervorbringt und ermöglicht. Eine neue Idee entsteht, die einer „Gelehrtenrepublik“. Die umfasste: „Wir Gelehrten in ganz Europa vernetzen uns, unsere Staatsform ist die einer Republik, und in ihr soll prinzipiell und permanent Krieg herrschen.“ Es ist erstaunlich, dass Pierre Bayle und andere große Denker im 17. Jahrhundert sagen, dieser Raum, diese „Gelehrtenrepublik“, sei von einer großen Freiheit gekennzeichnet – der Freiheit, sich gegenseitig brutal und ohne Rücksicht zu attackieren, und es herrsche ein Dauer-Krieg: alle gegen alle. Das ist eigentlich nicht das, was wir für das 17. und 18 Jahrhundert erwartet hätten. Das scheint eher eine Beschreibung von dem zu sein, was wir jetzt in Internetforen und Social-Media-Plattformen feststellen.

fundiert: Was wurde gegen Eskalationen in der „Gelehrtenrepublik“ unternommen?

Traninger: Das Interessante ist, dass dort mit der Ausrufung des Krieges gleich ein Bändigungsideal einhergeht. Es wurde gesagt: Krieg? Ja, aber unsere Argu mente bringen wir unparteiisch vor. Was heißt das? Wir enthalten uns nicht einer Meinungsäußerung, sondern wir tun so, als ob alles, was wir sagen wollen, erstmal auf dem Prüfstand steht. Wir wollen eine Qualität des Urteils einführen: Wir nehmen keine Rücksichten, ob das mein Freund ist, mein Schwager, mein Patron, gegen den ich argumentiere, doch ich muss mein Argument auch prüfen. Diese Art von reflektierter Differenzierung oder Distanzierung von dem, was man eigentlich sagen will, ist eine interessante Überlegung. Natürlich klappt das in der Gelehrtenrepublik überhaupt nicht, und es gibt furchtbare Auseinandersetzungen. Aber solche Überlegungen fehlen heute offenbar. Es wäre eine schöne Metadebatte, sich wie damals zu überlegen: „Wir wollen den freien Zugang zu Medien haben, aber schauen wir doch, wie wir das organisieren können.“ Das war im 17. Jahrhundert eine wirklich spannende Situation. Hesselmann: Total spannend. Wir versuchen auch gerade ein kleines Experiment, das in diese Richtung geht. Der Tagesspiegel hat zum Beispiel das Debattenportal „Causa“ aufgesetzt, und Sie haben mir gerade einen schönen Namen dafür geliefert: die digitale Gelehrtenrepublik. Da schreiben zum Beispiel Politologen wie Thomas Risse und Tanja Börzel oder Naturwissenschaftler wie Christian Thomsen. Bei „Causa“ versuchen wir genau so eine strukturierte Debatte zu führen und „verpflichten“ die Debattanten dazu, ihre Argumente schriftlich zu formulieren und die Argumente der anderen zu bewerten. Das war unsere eigentliche Idee, aber nicht jeder Wissenschaftler lässt sich darauf ein, daher hat das nicht wie erhofft funktioniert. Es ist auch ein Versuch, Debatten auf ein höheres Niveau zu heben. Als nächsten Schritt wollen wir diese Debatten öffnen. Die Arbeit der Kollegen wird dabei die Moderation sein. Mein Kollege Tilmann Warnecke hat zum Beispiel die Debatte geführt, in der der Präsident der Freien Universität, Peter-André Alt, darüber schreibt, wie eine Uni heutzutage zu leiten ist. Traninger: Mir gefällt es sehr gut, dass Sie diese Debattenreihen einführen, weil das eigentlich der Modus der scholastischen Universität ist. Wir steuern auf das Luther-Jubiläum zu, auf das Reformations-Jubiläum mit seinen Thesen. Ihr Forum funktioniert ja offenbar genau wie die scholastische Disputation: Thesen werden aufgestellt, und dann wird pro und contra argumentiert, und man muss immer am Thema bleiben. Ich habe mich oft gefragt: Was würden Philipp Melanchthon oder Martin Luther darüber denken, wie wir heute debattieren? Wahrscheinlich sähen sie ein großes Durcheinander, denn das Wichtigste damals war der status controversiae. Wo stehen wir eigentlich? Worüber sprechen wir? Was sind unsere Begriffe? Wo verstehen wir Begriffe unterschiedlich?

fundiert: Das hört sich alles sehr reflektiert an, aber Debatten leben ja auch von Emotionen und einer Polemik, die auch provoziert.

Traninger: Der Wutausbruch war das Begleitgeräusch der Disputation seit ihren Anfängen. Da wurden Türen eingetreten. Da wurden Haare gerauft. Wenn Leute mit einem gewissen Engagement Argumente vertreten, dann kann das eben auch im Zorn enden. Schopenhauer schrieb schon über diese Attacken und darüber, dass der persönliche Angriff, das argumentum ad hominem, eine sehr beliebte Strategie war, denn: Das kann jeder.

Hesselmann: Ich finde, wenn ein gewisses Niveau erreicht ist, man sich schön an die Argumente hält und aufeinander eingeht, dann ist dieses ad hominem dann auch mal okay. Heute geht man oft sofort aufeinander los, das ist halt nur noch langweilig. Und nicht nur langweilig, sondern auch gefährlich. Das zerstört jede Diskussion. Allerdings gibt es auch die Lust daran, mal polemisch zu sein. Wir wollen als Onlineangebot ja auch nicht langweilig werden, dann erreichen wir niemanden mehr. Überschriften müssen immer noch interessant bleiben, sonst werden sie nicht gelesen, und dann brauche ich meinen Artikel oder Debattenbeitrag erst gar nicht zu schreiben.

Traninger: Es interessant, sich anzuschauen, wie die alte Universität ihre Debatten organisiert hat. Man hat eine Debatte ganz klar als „gerahmt“ aufgefasst. Außerdem hat man den Teilnehmern Positionen zugeteilt, die sie verteidigen oder angreifen sollten. Das heißt, als Debattenteilnehmer hatte man grundsätzlich schon mal eine Distanz zum Argument. Trotzdem hing man sich mit voller Kraft rein und konnte auch aggressiv werden. Doch man hat es als eine Art „Match“ aufgefasst, das ein klares Ende hat. Es gab eine Art von Rahmung, man konnte sich in eine Debattensituation hineinbegeben, aber auch wieder heraustreten. Ich glaube, das ist etwas, was uns heute fehlt, weil wir diese unbedingte Identifikation mit unseren Meinungen haben.

Hesselmann: Das ist eine kontinentale beziehungsweise deutsche Tradition. Was Sie beschreiben, gibt es in England bis heute. Da wird Debattenteilnehmern eine Position zugeteilt, um zu üben, spielerisch an Debatten heranzugehen. Danach gehen trotzdem alle zusammen ein Ale trinken. Warum haben wir diese Tradition hier verloren?

Traninger: Sie sind ja ein Kenner Großbritannien: Wenn Sie sich dort Oxford und Cambridge anschauen, dann sehen Sie, dass eine Kontinuität zur mittelalterlichen Universität angestrebt wird. Das wird dort kultiviert und wirkt in die Gesellschaft hinein, weil das Establishment und der Journalismus massiv aus diesen Universitäten gespeist werden. Bei uns ist das anders. Im 18. Jahrhundert hat sich etwa Christian Thomasius gegen diese Art von Debatten verwehrt und gemeint, wenn man disputiert, aber die Position nicht aus persönlicher Überzeugung vertritt, dann ist das hohl und dient nur der Eitelkeit. Man solle nicht der Ehre wegen disputieren, sondern um einer Sache wegen, an die man wirklich glaubt, von der man überzeugt ist.

fundiert: Ist die Debatte um den „Brexit“ in Großbritannien nicht vielleicht ein Beispiel, dass diese spielerische Auffassung von Diskussionen ohne innerliche Überzeugung – wie sie etwa Boris Johnson verkörpert – auch schieflaufen kann?

Hesselmann: Bei Boris Johnson habe ich tatsächlich den Eindruck, dass er alles nur als ein Spiel empfi ndet. Schon als Telegraph-Korrespondent in Brüssel hatte er oft eine vermeintlich exklusive Story, etwa über Verordnungen zu krummen Bananen, die zwar irgendeinen wahren Kern hatte, aber die Hälfte davon stimmte nicht. Trotzdem hat er damit etwas ausgelöst: Er hat bereits in seiner publizistischen Arbeit einen Prozess in Gang gesetzt, den er jetzt, mit dem Brexit als Politiker „vollendet“ hat. Ich habe in England studiert und gearbeitet. Debatten immer nur als Sport und Small Talk zu sehen, das kann einen auch schon mal gehörig nerven. In Cambridge gibt es bei Festessen die Regel, dass man sich sieben Minuten mit dem linken Sitznachbarn und sieben Minuten mit dem rechten unterhält, und zwar immer abwechselnd. Egal wo dann das Gespräch gerade ist, nach sieben Minuten wende ich mich dem anderen zu. Was für ein Unsinn, wie eine Sportveranstaltung! Da wünscht man sich manchmal wieder die Tradition, mit Willen und innerer Überzeugung ein Thema bis zum Ende auszudiskutieren.

Traninger: Man soll aber die Rhetorik nicht an und für sich diskreditieren. Es ist ja nicht so, dass nicht bekannt gewesen wäre, wie Johnson agiert, er ist ja immer wieder der Lüge überführt worden. Es ist aber nicht die Schuld der Rhetorik, es sind immer wir, die politische Entscheidungen zulassen, die in etwas einstimmen, die nicht widersprechen, die nichts entgegensetzen. Die Technik der Rhetorik ist im Prinzip eine neutrale Sache, die man so oder so nutzen kann.

Die Wissenschaftlerin und den Journalisten verbindet eines: Die Freude an der Debatte.

Die Wissenschaftlerin und den Journalisten verbindet eines: Die Freude an der Debatte.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

fundiert: Wir haben immer über die deutsche Debattenkultur gesprochen. Sie sind Österreicherin. Gibt es da Unterschiede in der österreichischen Debattenkultur? Erleben Sie die Deutschen polemischer?

Traninger: Ich finde schon, dass es hier eine gewisse Direktheit gibt. Ich kann mich erinnern, dass es mich, als ich an die Freie Universität gekommen bin, sehr überrascht und auch schockiert hat, wie hart miteinander diskutiert wird. Aber jetzt bin ich selbst schon so geworden und es fällt mir nicht mehr so auf. Man integriert sich ja (lacht).

fundiert: Welche Chancen bieten Debatten im digitalen Zeitalter?

Hesselmann: Ich finde es ganz wichtig zu sehen, dass das Internet und die sozialen Medien auch Chancen bieten, und eben nicht, wie es oft plakativ gesagt wird, unsere Demokratie zerstören oder gefährden. Vielmehr bieten sie Möglichkeiten, einen öffentlichen Diskurs von den kleinen bis zu den großen Fragen zu führen, von Fragen wie: „Soll der Olivaer Platz in Charlottenburg ein Parkplatz bleiben oder nicht?“ – bis hin zu den wirklich wichtigen Themen wie Bildung und Integration.

Traninger: Wir haben vorhin die historischen Beispiele wie die Gelehrtenrepublik zum Teil positiv hervorgehoben, aber da hatte vieles einen Exklusivitätscharakter, den wir heute auf keinen Fall mehr akzeptieren könnten. Das hatte mit Demokratie nichts zu tun, und das war auch eine exklusive Angelegenheit für Männer, die Latein konnten und Zugang zum Buchdruck hatten. Da hat sich heute zum Glück viel verändert, und das müssen wir auch positiv anerkennen.

fundiert: Welche Art von Debatten würden Sie sich wünschen?

Hesselmann: Ich würde mir wünschen, dass sich in Debatten Leute zusammenfinden, die voneinander lernen wollen, ohne dass gleich Friede, Freude, Eierkuchen herrschen muss. Dass Menschen über die politischen Grenzen hinweg ins Gespräch kommen. Das finde ich hochspannend. Daran will ich arbeiten, an diesem journalistischen Zurückerobern der Debatte, da wagen sich noch viel zu wenige Journalisten dran.

Traninger: Ich wünsche mir vor allem, dass wir überhaupt Debatten haben. Es ist doch ein großes Glück, dass wir in einem Teil der Welt leben, in dem wir debattieren und uns äußern können, in dem wir gemeinsam darauf schauen können, wie wir Dinge besser machen können. Aber Debatte, ja, die sollten wir unbedingt haben.

 

Die Interviewten

Anita Traninger forscht vor allem zu Geschichte sowie Theorie und Praxis der Rhetorik.

Anita Traninger forscht vor allem zu Geschichte sowie Theorie und Praxis der Rhetorik.

Markus Hesselmann ist Chefredakteur Online beim Berliner Tagesspiegel.

Markus Hesselmann ist Chefredakteur Online beim Berliner Tagesspiegel.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Prof. Dr. Anita Traninger

Anita Traninger ist seit Oktober 2015 Universitätsprofessorin für Romanische Philologie mit den Schwerpunkten Galloromanistik und Hispanistik am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität. Darüber hinaus ist sie auch Principal Investigator an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule; sie sitzt im Vorstand des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit“ und ist stellvertretende Sprecherin des Dahlem Humanities Center, das die geisteswissenschaftliche Forschung an der Freien Universität vernetzt. In ihrer Forschung konzentriert sie sich vor allem auf Geschichte sowie die Theorie und Praxis der Rhetorik; außerdem forscht sie zur Wissensgeschichte, insbesondere mit Blick auf die spanische und französische Literatur, zur Geschlechtergeschichte sowie zur Geschichte der Emotionen.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Romanische Philologie
E-Mail: anita.traninger@fu-berlin.de   

Markus Hesselmann

Markus Hesselmann studierte Anglistik, Publizistik und Germanistik an der Freien Universität Berlin und der Universität Reading in England. Während seines Studiums war er Stipendiat des World Press Institute in St. Paul, Minnesota in den USA. Seine berufliche Laufbahn begann er als Redakteur beim Tagesspiegel; dort war er unter anderem tätig als London- Korrespondent, Ressortleiter Sport und Ressortleiter Berlin. Seit 2009 ist Markus Hesselmann Chefredakteur Online beim Berliner Tagesspiegel.

Kontakt

E-mail: markus.hesselmann@tagesspiegel.de