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Unterschiedlicher Blick auf den Holocaust

10.04.2014

Holocaust-Gedenken in Israel und Deutschland, in der „Hall of Names“ in Yad Vashem (o.) und am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin.

Holocaust-Gedenken in Israel und Deutschland, in der „Hall of Names“ in Yad Vashem (o.) und am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin.
Bildquelle: David Shankbone (o.), Marko Priske

Erster Lehrpreis der Freien Universität geht an deutsch-israelisches Austauschprojekt

Es geschah vor wenigen Monaten, zu Silvester: Jugendliche sprangen auf den Stelen des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas umher, zündeten Raketen und urinierten schließlich gegen die Betonsäulen. Das Geschehen, als verwackelte Aufnahmen mit einer Handykamera dokumentiert, sorgte in Israel für Empörung: Die Ereignisse aus der Berliner Neujahrsnacht 2013/14 kamen nach dortigem Empfinden einer Schändung des Denkmals gleich. Hierzulande wurde der Vorfall erst mehr als eine Woche später durch israelische Medienberichte publik.

Forderungen wurden laut, nach einer Umzäunung des Areals bis hin zur Bewachung. Andere argumentierten, das Denkmal sei bewusst offen gestaltet, da es den Holocaust als ständig gegenwärtigen Teil deutscher Geschichte symbolisiere. „Während eine Bewachung von Denkmälern in Deutschland völlig unüblich ist, sieht man in Israel nicht selten uniformierte Soldaten an Gedenkorten patrouillieren“, erläutert der Historiker Martin Lücke von der Freien Universität Berlin. Auch das Zeigen der Landesflagge an solchen Orten sei in Israel nicht unüblich.

Als Lücke derartig verschiedene Sichtweisen auf den Umgang mit Gedenkkultur mit Kollegen der Hebräischen Universität Jerusalem diskutierte, entstand die Idee für ein gemeinsames Austauschprogramm. Inzwischen ist das Projekt mit dem Lehrpreis der Freien Universität ausgezeichnet worden. Es richtet sich an Lehramtsstudierende beider Universitäten und widmet sich den geschichtlichen und kulturellen Hintergründen des Holocaust, dem jeweiligen öffentlichen Gedenken sowie der Vermittlung des Themas an Schulen in beiden Ländern. „Ziel ist es, frei zugängliche Lehrmaterialien zu Aspekten des Holocaust zu erarbeiten, die für beide Länder gleichermaßen relevant sind, und diese online verfügbar zu machen“, sagt Martin Lücke.

Der Lehrpreis der Freien Universität wird in diesem Jahr bei einer Veranstaltung am 6. Mai zum ersten Mal verliehen. Von nun an soll er jährlich an innovative und interdisziplinäre Konzepte vergeben werden. Das deutsch-israelische Projekt ermögliche neben der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem wichtigen Thema Holocaust den interkulturellen Austausch, begründete der Präsident der Freien Universität, Professor Peter- André Alt, die Juryentscheidung. Eingereicht worden waren 20 Projekte aus allen Fachrichtungen der Universität.

Das Preisgeld von 10 000 Euro soll dem Aufbau der Lehrmaterial-Plattform zugute kommen. Ohne das Internet, da sind sich die beteiligten Studierenden sicher, wäre die gemeinsame Arbeit undenkbar: „Mithilfe von Videokonferenzen, Skype und sozialen Netzwerken wie Facebook diskutieren und arbeiten insgesamt rund 30 Studierende – die eine Hälfte aus Israel und die andere aus Deutschland – seit dem Wintersemester in gemischten Gruppen zusammen“, erzählt der Tutor am Arbeitsbereich „Didaktik der Geschichte“, Adrian Lehne.

Schon bei der ersten Videokonferenz zum gegenseitigen Kennenlernen hätten sich unterschiedliche Perspektiven gezeigt: „Während die Studierenden auf deutscher Seite von ihren fachlichen Interessen berichteten, erzählten die israelischen Studierenden oftmals, dass sie die eigene familiäre Holocaust-Geschichte zur Teilnahme veranlasst habe“, sagt Doktorand Marc Ullrich.

Mit Adrian Lehne hat er ein vorbereitendes Tutorium für die deutschen Studierenden veranstaltet. Ein Bestandteil waren sogenannte Kultursimulationen, bei denen Studierende sich wie in einem Rollenspiel in fremde Kulturen hineinversetzten. „Auf diese Weise konnten sie lernen ,Kommunikationshürden zu überwinden“, sagt Ullrich. Das Seminar selbst leiteten Martin Lücke und Ethik-Professor Michael Bongardt.

Über die räumliche Distanz hinweg verglichen die Studierenden auch Geschichtsbücher beider Länder: Während hierzulande für die Texte meist Quellen der Täter herangezogen würden, richte sich der Blick israelischer Unterrichtsbücher vor allem auf den jüdischen Widerstand und das Leben in den Ghettos, erzählen Lehne und Ullrich.

„In Israel werden dem Thema manchmal ein ganzes Buch oder 80 bis 90 Seiten gewidmet, hierzulande sind es in der Regel weniger als zehn“, sagt Professor Martin Lücke. In der Bildungsarbeit müsse die jüdische Opferrolle um weitere Perspektiven ergänzt werden, findet er: Die Bedeutung jüdischer Wissenschaftler und Künstler, das jüdische Leben vor der Verfolgung und die Zeit nach 1945 kämen in bisherigen Lehrmaterialien zu kurz.

In diesen Tagen besuchen die Berliner Studierenden Jerusalem, um gemeinsam mit den dortigen Kommilitonen etwa Yad Vashem zu besichtigen – einen der bedeutendsten Holocaust-Gedenkorte und Archive Israels. Beim Gegenbesuch im August stehen mit dem Haus der Wannseekonferenz und dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas ebenfalls zentrale Gedenkorte auf dem Programm.

„Auch der architektonische Vergleich der Gedenkstätten ist uns wichtig, weil die unterschiedlichen Konzepte Rückschlüsse auf die jeweilige Art des Erinnerns erlauben“, sagt Lehne. Er sieht in dem Projekt einen wichtigen Schritt hin zur Internationalisierung des Lehrerberufs. „Im Laufe seiner Karriere beeinflusst ein Lehrer viele Schüler, daher ist es wichtig, die vielfältigen Perspektiven auf ein solches Thema zu verdeutlichen.“

Für einige Studierende wird es der erste Israel-Besuch werden. Das Bild freundschaftlicher, gefestigter deutsch-israelischer Beziehungen sollen Teilnehmer in ihrem späteren Lehrer-Leben in den Schulalltag beider Länder hineintragen, so die Hoffnung Lückes.

Mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und deren Programm „Gegen Rechtsextremismus“, der Jewish Claims Conference, der Stiftung Deutsche Klassenlotterie sowie dem DAAD Center for German Studies und dem Richard Koebner Minerva Center for German History an der Hebrew University haben er und sein Team gemeinsam mit den Kollegen in Israel für das erste Jahr bereits die finanzielle Unterstützung gesichert. Nun streben sie an, das Austauschprogramm und die begleitenden Seminare an beiden Universitäten künftig jährlich anzubieten.

Weitere Informationen

www.historycultures.de