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Europäische Solidarität im Härtetest

Ein Plädoyer für den politischen Streit / Von Politikwissenschaftler Professor Thomas Risse

10.04.2014

Thomas Risse, Professor für internationale Politik am Otto-Suhr-Institut.

Thomas Risse, Professor für internationale Politik am Otto-Suhr-Institut.
Bildquelle: JanPaulsFotografie/ www.janpauls.de

Viele Beobachter stellen im Zusammenhang mit der Euro-Krise die Zukunft der Europäischen Union grundsätzlich in Frage. Gerade im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai dieses Jahres hört man dabei immer wieder zwei Behauptungen. Erstens: Es gibt kein „europäisches Volk“, keinen europäischen „demos“. Die Bürgerinnen und Bürger identifizieren sich zu wenig mit der EU und die „Solidarität unter Fremden“ (Jürgen Habermas) ist in Europa nur schwach ausgeprägt.

Zweitens: Es gibt keine europäische Öffentlichkeit, weil es keine europäischen Medien gibt und weil die Menschen in Europa unterschiedliche Sprachen sprechen. Beide Behauptungen sind falsch. Das zeigen Untersuchungen der Kolleg-Forschergruppe „Die transformatorische Kraft Europas“. Was die Identifikation mit Europa angeht, so zeigt sich, dass große Mehrheiten der EU-Bürgerinnen und -Bürger sich mit ihrem eigenen Nationalstaat und mit Europa identifizieren.

Wer sich mit Europa identifiziert, braucht seine nationale oder regionale Identität nicht aufzugeben. Wir alle haben multiple Identitäten. Diesen mehrfachen Identitäten entspricht, dass in den meisten europäischen Hauptstädten die nationale Flagge zumeist neben der EU-Fahne weht und dass die Euro-Münzen auf der einen Seite nationale Symbole zeigen und auf der anderen Seite einheitlich europäisch gestaltet sind.

Diese Identifikation mit Europa wurde während der Euro-Krise einem „Härtetest“ ausgesetzt. Dabei zeigt sich, dass die Menschen umso eher zu europäischer Solidarität in der Euro-Krise bereit sind, je mehr sie sich mit Europa identifizieren. Untersuchungen belegen, dass diejenigen, die sich sowohl als Deutsche (oder Franzosen oder Polen usw.) als auch als Europäer fühlen, sehr viel mehr zu europäischer „Solidarität unter Fremden“ bereit sind als diejenigen, die sich ausschließlich mit dem eigenen Nationalstaat identifizieren.

Schon ein geringes Maß an Identifizierung mit Europa führt dazu, dass Menschen sich mehrheitlich für eine europäische Transfer- Union aussprechen – wenn die Schuldenländer ihre Hausaufgaben machen. Wer sich hingegen ausschließlich mit dem eigenen Nationalstaat identifiziert, der ist weit weniger bereit, die europäische Integration zu unterstützen und Transferleistungen an Krisenländer mitzutragen.

Was die zweite Frage nach einer europäischen Öffentlichkeit angeht, so gibt es natürlich kaum europaweite Medien, und Europas Bürgerinnen und Bürger sprechen auch nicht die gleiche Sprache. Das ist aber auch für die Entstehung transnationaler Öffentlichkeiten nicht nötig, wie Studien der Kolleg-Forschergruppe zeigen. Vielmehr kommt es auf die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten an. Damit ist gemeint, dass EU-bezogene Themen in den nationalen Medien hohe Aufmerksamkeit genießen, dass Stimmen aus anderen europäischen Ländern und aus den EU-Institutionen routinemäßig Gehör finden und dass die Europäerinnen und Europäer sich grenzüberschreitend und europaweit über ähnliche Themen streiten.

Auch hier zeigt sich, dass diese Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten während der Euro-Krise stark zugenommen hat. Das hat zu einer starken Politisierung und öffentlichen Diskussion europäischer Fragen geführt, wie sich jetzt wieder im Europa- Wahlkampf zeigt. Was ergibt sich aus diesen Forschungsergebnissen für die europäische Politik? Wer davon überzeugt ist, dass es weder eine europäische Identität noch eine europäische Öffentlichkeit gibt, der findet Streit über europäische Themen schlecht, denn er denkt, dieser Streit behindere die europäische Integration.

Die Forschungen der Kolleg-Forschergruppe an der Freien Universität Berlin zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Nur wer sich politisch streitet, zeigt, dass er sich wirklich für Europa interessiert und dass Europa alle etwas angeht. Wer hingegen diesem Streit ausweicht, überlässt das Feld kampflos populistischen Europa-Skeptikern – und darf sich hinterher nicht wundern, wenn die entsprechenden Parteien im europäischen Parlament stärker vertreten sind. Die Politisierung und öffentliche Debatte europäischer Fragen ist ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Es kommt jetzt darauf an, diese Debatte aktiv mitzugestalten.

Zur Person

Der Autor Thomas Risse ist Professor für internationale Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Professorin Tanja A. Börzel leitet er dort die Kolleg-Forschergruppe „Die transformatorische Kraft Europas“, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird.

Mit Promovierenden, Post-Doktoranden und Gastwissenschaftlern untersuchen Risse und Börzel, wie sich europäische Ideen, Politiken und Institutionen innerhalb und außerhalb Europas verbreiten und welche Probleme dabei entstehen. In diesem Rahmen werden auch Fragen der europäischen Identität und der europäischen Öffentlichkeit bearbeitet.

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