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Krippenspektakel und Habenichtse

Das Krippenspiel ist eine mittelalterliche Erfindung: Die Idee, die Weihnachtsgeschichte spielerisch zu inszenieren, ist auf besondere Weise mit Franz von Assisi verbunden, der das Krippenspiel in Europa populär machte.

01.12.2020

Aufführung des Krippenspiels im italienischen Greccio. An diesem Ort wurde das weihnachtliche Schauspiel erfunden.

Aufführung des Krippenspiels im italienischen Greccio. An diesem Ort wurde das weihnachtliche Schauspiel erfunden.
Bildquelle: Stefano Dal Pozzolo/Romano Sicilliani/Kann

Weihnachten ist ein Fest, das Franz von Assisi ganz besonders geliebt hat, sah er doch in der Geburt Jesu Christi den Anfang der Erlösung. Was Franz in der Heiligen Nacht des Jahres 1223 bei dem umbrischen Dorf Greccio inszenierte, hat sich tief in die christliche Geschichte eingeprägt.

Thomas von Celano, Freund und erster Biograf des Franz von Assisi, beschreibt die Feier des besagten Weihnachtstags detailreich: Auf Wunsch des Heiligen wurde zwischen den Felsen im Wald eine Krippe aufgebaut. Heu und Stroh wurden gebracht, ein Neugeborenes darauf gelegt und Ochse und Esel herbeigeführt. So wurde, schreibt Celano, durch das Nachstellen der biblischen Stallszene, „aus Greccio ein neues Bethlehem“.

Franz sang das Evangelium, um dann zum Lobpreis über die Geburt des armen Königs anzuheben. Oft, wenn er Jesus Christus, das Lamm Gottes, beim Namen nennen wollte, habe er vom „Kind von Bethlehem“ gesprochen, wobei er „Betlemme“ wie ein blökendes Schaf aussprach: Bäät-lää-mää. Anscheinend konnte Franz sich sogar in das Jesuskind einfühlen, denn er begann, wie Thomas von Celano berichtet, manchmal selbst wie ein Baby zu lallen. In dieser Nacht, so schließt Celano seine Beschreibung der Feier, sei das Jesuskind im Herzen vieler neu geboren worden.

Die heilige Nacht verlässt die Kirchenmauern

„In Greccio wurde, wenn man so will, die Geburt Jesu Christi durch ein theatralisches Spektakel ins 13. Jahrhundert übersetzt“, sagt Thomas Ertl, Professor an der Freien Universität für Wirtschafts- und Sozialgeschichte des hohen und späten Mittelalters und ein Kenner des frühen Franziskanertums.

Neu sei hier nicht das Krippenspiel an sich. Denn liturgische Spiele zur Weihnachtszeit waren schon ein bis zwei Jahrhunderte vor Franziskus verbreitet. Neu sei, betont der Historiker, die Dramatik der Inszenierung. „Die schauspielerischen Elemente, das Aufbrechen der festen Liturgie und überhaupt die Feier der Heiligen Nacht nicht innerhalb der Mauern einer Kirche, sondern auf einer Art Freilichtbühne, im Fackelschein – all das gab dem Evangelium nie erlebte Farbe.“

Franziskus habe versucht, das Weihnachtsgeschehen zu einem erlebbaren Ereignis zu gestalten, erklärt Thomas Ertl. Der Poverello, der kleine Arme, wie Franz genannt wurde, wollte die erbärmliche Wirklichkeit des Stalls von Bethlehem wieder zum Leben erwecken. Er wollte, wie Celano hervorhebt, „so greifbar als nur möglich mit leiblichen Augen schauen“, wie Maria das Gotteskind in dieser Nacht zwischen Stalltieren gebettet hat, und er wollte die große Not des Neugeborenen am eigenen Körper spüren.

Franziskus, der Spielmann Gottes

Das passte zum Predigtstil des Franz, der nicht an den Worten hing, sondern auch an Gesten, dem tätigen Beispiel, an der Performance. „Von Franziskus heißt es, dass er wie ein Tänzer vortrug“, sagt Thomas Ertl. „Seine Predigten, die er in der Volkssprache hielt, waren sinnlich aufgeladen, um auf möglichst einfache und direkte Art emotionale Erkenntnis herzustellen.“ So machte der ioculator Dei, der „Spielmann Gottes“, auf die Zeitgenossen einen tiefen Eindruck.

Die Weihnachtsfeier von Greccio hatte nicht nur innovative Kraft, die zur Popularität der Weihnachtskrippe in Europa beitrug: Franz gab auch der sozialen Provokation, die in der biblischen Weihnachtserzählung mitschwingt, neue Schärfe. Gott als hilfloses Kind am Rand der Gesellschaft – damit sandte er die Mahnung, Gott in jedem hilfsbedürftigen Menschen zu sehen.

Das Ideal des vollkommenen Verzichts

Der anfangs als Narr und Sonderling abgetane Franz von Assisi gehörte zu den zahlreichen Gründern mönchischer Bettelorden, die seit dem 12. Jahrhundert auf den Plan traten. In Italien, Frankreich und England sammelten sich Tausende Menschen um prophetische Führungsgestalten.

Ihnen allen gemeinsam war das Ideal der vita evangelica et apostolica, des Lebens in Armut nach dem Vorbild Christi und der Apostel. Von der neuen, kaufmännisch geprägten Wirtschaftsordnung wandten sie sich radikal ab und propagierten ein Leben in freiwilliger Armut. Franz verlangte von seinen Gefährten den vollkommenen Verzicht auf jeglichen Besitz. Selbst die Kleider am Leib galten nur als Leihgaben. Geld durften sie nicht einmal berühren. Als „Mindere“ waren die Brüder zu einem Leben mit den Ärmsten und Aussätzigen verpflichtet. Und diese materielle Armut fanden die Franziskaner dort, wo sie sich am schnellsten ausbreitete, in den Städten.

Die Bevölkerung verdoppelt sich

Der Erfolg der Armutsbewegung war, wie Thomas Ertl erklärt, eine der Reaktionen auf den tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel im hohen Mittelalter. „Nicht nur verdoppelte sich die europäische Bevölkerung zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert. Auch die Stadtkultur blühte wieder auf, die mit dem Ende des Römischen Reiches an Bedeutung verloren hatte. Die Urbanisierung führt dazu, dass nun immerhin 10 bis 15 Prozent der Europäer in Städten lebten.“ Die auf Geld basierende Tauschwirtschaft ersetzte langsam die Naturalwirtschaft, wodurch der Handel einen enormen Aufschwung erlebte.

Experte für Franziskanertum: Thomas Ertl forscht an der Freien Universität zur Geschichte des hohen und späten Mittelalters.

Experte für Franziskanertum: Thomas Ertl forscht an der Freien Universität zur Geschichte des hohen und späten Mittelalters.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Während die Städte des hohen Mittelalters mit ihren Türmen, Stadtmauern und Kirchen einen eindrucksvollen Anblick boten, entstanden zugleich Bevölkerungsschichten, die von diesem neuen Glanz nichts abbekamen“, erläutert Thomas Ertl. Es war eine neue Form der Armut: die der Lohnarbeit. „Eine Folge des Vordringens der Geldwirtschaft war die zunehmende materielle Schichtung innerhalb der Bauernschaft“, hebt Thomas Ertl hervor. „Die Schere zwischen Groß- und Kleinbauern wurde größer. Die landarmen Bauern, deren Erträge nicht zum Leben reichten, waren gezwungen, sich durch Lohnarbeit in den Städten neue Einkommensquellen zu verschaffen.“

In den Städten herrscht Armut

Das bedeutete nicht nur, dass die Armen vom Land in die vermeintlich aussichtsreichere Stadt abwanderten, dort aber nur prekäre Beschäftigungsverhältnisse vorfanden. Es bedeutete zugleich, dass Armut jetzt „sichtbar“ wurde, erläutert Thomas Ertl. Steuerlisten aus dem Hoch- und Spätmittelalter lassen das Ausmaß der Armut in Mittel- und Westeuropa erahnen: Je nach Schätzung lebten ein bis zwei Drittel der Stadtbevölkerung von der Hand in den Mund. „Die Verdichtung der Armut in den Städten führte zu einer vertieften theologischen Reflexion bei Menschen, die sich für Randgruppen und Arme interessierten – Menschen wie die Franziskaner.“

Flucht, Obdachlosigkeit und Armut sind bis heute aktuelle Themen

Die Neubesinnung auf die Armut war auch eine Reaktion auf die Diskrepanz zwischen dem Auftrag der Bischöfe, Nachfolger der Apostel zu sein, und ihrer tatsächlichen Lebensführung – die sehr fern von dem war, was von Jesus und seinen Anhängern bekannt war.

„Franz und seine ersten Anhänger waren der Ansicht, dass sich die Kirche von der Lehre Jesu Christi abgewandt hätte. Sie nahmen sich deshalb vor, die Urkirche wieder ans Licht zu bringen“, sagt Historiker Ertl. Das geschah vor allem dadurch, dass sie die zentralen Inhalte der Evangelien den Menschen auf eine neue greifbare und erlebbare Weise nahebrachten. Die Weihnachtsfeier von Greccio ist dafür ein prägnantes Beispiel.

Franziskus hat einen Diskurs angestoßen, der bis in die Gegenwart reicht

Papst Gregor IX., der ein halbes Jahr nach Franz’ Tod den Apostolischen Stuhl bestieg, unterstützte die junge Gemeinschaft der Franziskaner – und unterhöhlte gleichzeitig das franziskanische Armutsideal, weil er befürchtete, es könnte innerhalb der Kirche eine subversive Kraft entfalten. Eine Gemeinschaft, in der Besitz nichts galt und die den Anspruch erhob, die wahre Kirche zu sein, musste ein beständiger Vorwurf an die Mehrheitskirche sein, die sich auf Reichtum und Herrschaft stützte.

„Franziskus stößt einen Diskurs über gerechte Verteilung und ein angemessenes Miteinander an, der die europäische Geschichte nicht mehr verlassen wird“, sagt Thomas Ertl.

Die Grundthemen der Weihnachtsgeschichte – Flucht, Obdachlosigkeit und Armut – prägen auch die Gegenwart. Und wie im Mittelalter wird in der heutigen Zeit die Weihnachtsszene mitunter als ein Kommentar in die politische Auseinandersetzung um soziale Ungleichheit eingebracht.

Thomas Ertl erinnert an einen aktuellen Fall: Die Stadtverwaltung von Worms verbot 2014 ein Krippenspiel auf dem Wormser Weihnachtsmarkt wegen einer vermeintlichen Gefahr für die öffentliche Ordnung. Mit der Aufführung, bei der die Flucht von Maria, Josef und dem Jesuskind nach Ägypten nachgespielt werden sollte, wollte eine Kirchengemeinde der Stadt auf die Not heutiger Flüchtlinge und das Leid der Armen in der Welt aufmerksam machen.


Diesen Artikel finden Sie hier auch auf Englisch.