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Unerforschter Klassiker

Es gibt Medikamente, die schon lange und so häufig eingesetzt werden, dass sie aus der Medizin nicht mehr wegzudenken sind. Aspirin zum Beispiel, das Antibiotikum Penizillin – oder Heparin

30.11.2020

Der Zusammensetzung von Heparin auf der Spur. Disaccharide – früher Zweifachzucker genannt – sind organisch-chemische Verbindungen aus der Gruppe der Kohlenhydrate.

Der Zusammensetzung von Heparin auf der Spur. Disaccharide – früher Zweifachzucker genannt – sind organisch-chemische Verbindungen aus der Gruppe der Kohlenhydrate.
Bildquelle: Eike Mucha

Der Blutverdünner wird Menschen prophylaktisch gespritzt, wann immer die Gefahr besteht, dass Blutgerinnsel entstehen, die ein Gefäß verstopfen könnten. So lassen sich bei Patientinnen und Patienten nach einer Operation oder bei älteren, bettlägerigen Menschen Thrombosen und Lungenembolien verhindern. Auch Blutgerinnungsstörungen werden damit behandelt.

„Bereits in den 1940er Jahren wurde Heparin als Medikament zugelassen, und es funktioniert wirklich gut: Es ist das Mittel der Wahl, also der sogenannte Goldstandard in der Antikoagulation. Nach heutigen Maßstäben würde ihm jedoch keine Arzneimittelbehörde der Welt die Zulassung geben – weil im Grunde niemand genau weiß, was drin ist“, sagt Kevin Pagel, Professor für Organische Chemie an der Freien Universität Berlin. Denn Heparin ist kein standardisiertes Arzneimittel, das aus einem einzigen Molekül besteht, sondern ein wildes Gemisch von Vielfachzuckern mit variabler Kettenlänge, das in jedem tierischen Organismus vorkommt.

Zuckerketten genauer analysieren

Ein Konsortium von Forscherinnen und Forschern an europäischen Universitäten will nun im Rahmen eines mit vier Millionen Euro dotierten Horizont-2020-Projekts diese Zuckerketten genauer analysieren. Der Gruppe um Kevin Pagel wurden 880 000 Euro bewilligt. Beteiligt am Vorhaben sind außerdem die Universitäten Kopenhagen, Utrecht und Nijmegen, das Stockholmer Karolinska-Institut sowie drei Firmen.

Die Strukturen von Heparin sollen nicht nur exakt aufgeklärt werden, es soll auch eine Technologieplattform aufgebaut werden, um – im Sinne der Qualitätskontrolle – messen zu können, was in einer Charge Rohheparin tatsächlich enthalten ist. Zudem sollen Möglichkeiten erforscht werden, wie der Blutverdünner synthetisch hergestellt werden kann.

Aus der Darmschleimhaut von Schweinen

Dafür ist es auch höchste Zeit: Heparin, oder besser gesagt die Heparine im Plural, werden am ergiebigsten aus der Darmschleimhaut von Schweinen gewonnen. Weltgrößter Erzeuger des Rohproduktes ist China. Von dort werden allein nach Deutschland jährlich mehr als zehn Tonnen exportiert. Verunreinigungen im Rohheparin – durch schlechte Extraktion und ein illegal zugesetztes Streckmittel – führten 2007/2008 weltweit bei vielen Patientinnen und Patienten zu allergischen Schockreaktionen. Allein in den USA erkrankten knapp 800 Menschen schwer, 80 starben.

Chemie-Professor Kevin Pagel forscht an der praktischen Anwendung des Gerinnungshemmers Heparin.

Chemie-Professor Kevin Pagel forscht an der praktischen Anwendung des Gerinnungshemmers Heparin.
Bildquelle: Eike Mucha

Chemisch gesehen gehören Heparine zu den Glykosamino-Glykanen. Während andere natürliche Vielfachzucker wie Zellulose oder Chitin exakt regelmäßig aufgebaut sind, ist das einzige Regelmäßige an Heparinen, dass sich zwei unterschiedliche Grundbausteine – ein Glukosamin und eine Zuckersäure– wie zwei verschiedene Perlenarten in der Kette abwechseln.

Doch von jedem der Bausteine gibt es zwei Varianten. Und noch dazu sind die „Perlen“ manchmal, nicht immer, mit kleinen Anhängseln bestückt. Das sind Sulfatgruppen, die noch dazu an unterschiedlichen Hydroxylgruppen (-OH) der Zuckermoleküle sitzen können. „Heterogener geht es also kaum“, sagt Kevin Pagel.

Die Zuckerketten werden an der Membran bestimmter Zellen gebildet, dann allmählich mit Sulfatgruppen bestückt und irgendwann „abgeschnitten“. Sie können nur einige wenige, aber auch bis zu 100 oder mehr Zucker lang sein.

Ein Windkanal für Moleküle

Während die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Stockholm medizinischen Fragen nachgehen und in Kopenhagen Genmodifikationen und einen Teil der Sequenzierung vornehmen, befassen sich die beiden niederländischen Gruppen mit der künstlichen Synthese des Wirkstoffs. Kevin Pagel konzentriert sich auf die Strukturanalyse kleinerer Kettenfragmente.

Dabei nutzt er die Tatsache, dass Heparine aufgrund der vielen Sulfatgruppen stark negativ geladen sind und größere Ketten deshalb gut im Massenspektrometer in kleinere Bruchstücke zerlegt werden können. Anhand der Masse lassen sich diese Bruchstücke jedoch kaum unterscheiden, weil die Grundstruktur der Fragmente sehr ähnlich ist. Deshalb schaltet Pagel ein Ionenmobilitäts-Spektrometer dahinter.

„Das ist quasi ein Windkanal für Moleküle, eine Art Chromatographie in der Gasphase“, erklärt der Chemiker. An kleineren Zuckern hatte er im Vorfeld zeigen können, dass sich zwei gleich große Heparin-Fragmente, die unterschiedlich sulfatiert sind, in ihrer dreidimensionalen Struktur signifikant unterscheiden. Je nach Größe, Form und Ladung fliegen die Ionen unterschiedlich schnell durch die Messanordnung. „Das ist wie mit einem Ferrari und einem Ford Transit: beide haben zwar die gleiche Masse – aber einen völlig anderen Luftwiderstand. Aber ja, der „Motor“ sei in diesem Fall mal gleich stark, fügt er lachend an. „Der ist nämlich die Spannung, die wir an den Windkanal anlegen.“

Die Anwendung von Heparin hat riesiges Potenzial

Zuerst haben Pagel und Kollegen eine Heparinsequenz aus sechs Zuckerbausteinen auf diese Weise zerlegt, exakt vermessen und rekonstruiert. Inzwischen gelang es ihnen auch, eine „Neunerkette“ zu analysieren. „Sechs, acht, zehn oder zwölf sind die derzeit gut handhabbaren Größen. Damit haben die Bruchstücke noch ausreichend Überlappung, um hinterher die Abfolge in der Kette rekonstruieren zu können.“

Eine wichtige Zuckersequenz, über die Heparin an bestimmten Proteinen im Blut (sogenannten Antithrombinen) andockt und darüber die Blutgerinnung unterbindet, konnte dadurch bereits analysiert werden. Bis man die Struktur eines langen Heparins aus 100 Zuckerbausteinen vollständig aufklären kann, werden aber wohl noch zehn Jahre vergehen.

„Wenn alles gut läuft, wäre das für die künftige Anwendung von Heparinen gigantisch“, schwärmt Kevin Pagel. Die primäre Anwendung sieht er in der Qualitätskontrolle von Heparin-Präparaten und der Charakterisierung von pharmazeutisch besser zugänglichen Heparin-Mimetika. Langfristig denkt der Chemiker auch an personalisierte Medizin. „Wir könnten dann die natürlichen Heparine im Blut von Patienten bestimmen, um Therapien auf den Einzelnen perfekt abzustimmen.“

Auch die klinische Diagnostik könnte durch das Projekt vorankommen, weil Sulfatgruppen an bestimmten Positionen der Zuckermoleküle auf Entzündungen im Körper oder auf Tumore hindeuten.