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Eng verknüpfte Disziplinen

Die Romanistin Susanne Zepp-Zwirner und der Kriminologe Klaus Hoffmann-Holland beschäftigen sich mit dem Wechselspiel von Recht und Literatur

22.04.2021

Offener Brief: Auf der Titelseite der Zeitung L’Aurore wendet sich Émile Zola am 13. Januar 1898 wegen der Dreyfus-Affäre an den französischen Staatspräsidenten Félix Faure.

Offener Brief: Auf der Titelseite der Zeitung L’Aurore wendet sich Émile Zola am 13. Januar 1898 wegen der Dreyfus-Affäre an den französischen Staatspräsidenten Félix Faure.
Bildquelle: Wikipedia Commons

Dass Recht und Literatur aufeinander bezogen sind, hat etwa Kafkas Roman „Der Prozess“ deutlich gemacht. Wie genau aber dieses Beziehungsgeflecht, dieses Spannungsfeld aussieht, loten seit einigen Jahren Susanne Zepp-Zwirner, Professorin für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin, und Klaus Hoffmann- Holland, dort Professor für Kriminologie und Strafrecht, in gemeinsamen Lehrveranstaltungen aus.

„Sowohl die Rechts- als auch die Literaturwissenschaft sind Textwissenschaften. Unsere Kooperation verknüpft begrifflich-theoretische Arbeit aus dem juristischen Bereich mit hermeneutischen Verfahren der Literaturwissenschaften“, erläutert Klaus Hoffmann-Holland. „Der gemeinsame Ausgangspunkt bestand darin, Konstellationen zu rekonstruieren, in denen das Recht nicht oder noch nicht reagiert hatte, obgleich es eine Erwartung an das Recht gab. Konstellationen, in denen dann die Literatur eingefordert hat, dass das Recht sich damit auseinandersetzt.“

Ein Beispiel: die Dreyfus-Affäre. Ohne Émile Zolas „J'accuse“ – „Ich klage an“ – aus dem Jahr 1898 hätte es wohl keine rechtliche Aufarbeitung der ungerechten Verurteilung von Alfred Dreyfus und der Vertuschung des Justizskandals gegeben, sagt Klaus Hoffmann- Holland. Der französische Schriftsteller Zola habe einen literarischen Essay in Form einer Anklagerede geschrieben, um die Justiz dazu zu bringen, ein Unrecht aufzuklären.

Ein Roman von Franz Werfel thematisiert den Genozid an den Armeniern

Ihre interdisziplinäre Zusammenarbeit, die 2016 begann, habe sich als so ergiebig erwiesen, sagt Susanne Zepp-Zwirner, dass sie und Klaus Hoffmann-Holland gemeinsam mit Studierenden beider Disziplinen seitdem immer wieder Seminare und Kolloquien sowie daran anknüpfend Forschungskooperationen organisiert haben.

Jüngstes Beispiel aus dem vergangenen Wintersemester ist ein Seminar zum Begriff des Genozids. Dank des Engagements des Juristen Raphael Lemkin konnten die Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 das „Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ verabschieden. Den Begriff „Genozid“ hat Lemkin erstmals 1943 in seinem Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ entwickelt.

Die Begriffsgeschichte, so Susanne Zepp-Zwirner, sei Ausdruck und Beispiel für das Wechselspiel von Literatur und Recht. Die Literaturwissenschaftlerin erinnert an Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ als einen wichtigen Strang dieser Entwicklung: „Der Roman ist eine literarische Anklage des Genozids, der 1915/1916 an den Armeniern im Osmanischen Reich verübt wurde“, erläutert sie. „Wegen des Grundsatzes der Nichteinmischung konnten damals Verbrechen dieser Art nicht geahndet werden. Werfel aber beschreibt die Spezifik der Tat – dass Menschen nur aufgrund des Zufalls ihrer Geburt verfolgt und ermordet werden – und zeigt damit die Notwendigkeit an, derartige Straftaten als etwas einzustufen, das man juristisch als Weltgemeinschaft ahnden muss.“

Und wie reagierte das Recht darauf? „Raphael Lemkin führte den Begriff des Genozids in die Rechtslehre und Rechtswissenschaft ein und war wesentlich an der Formulierung der Genozidkonvention der Vereinten Nationen von 1948 beteiligt“, erläutert Klaus Hoffmann-Holland. „Daran knüpft die Anwendung des Weltrechtsprinzips an, nach dem die Aufarbeitung von völkerrechtlichen Verbrechen alle Staaten und die gesamte internationale Gemeinschaft betrifft.“

Impulse für die interdisziplinäre Forschung

Aus der Zusammenarbeit von Susanne Zepp-Zwirner und Klaus Hoffmann-Holland sind Impulse für die interdisziplinäre Forschung entstanden: zum Beispiel im internationalen Austausch wie bei der Ringvorlesung „Key Legal Concepts in Law and Literature“, die im vergangenen Wintersemester stattfand, in Kooperation mit der Hebrew University of Jerusalem, der Tel Aviv University, dem Van Leer Institute in Jerusalem und dem Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien in Berlin und Brandenburg.

Oder aber im Seminar mit Studierenden, wie in jenem zum Genozidbegriff, bei dem unterschiedliche Themen und juristische Fälle aus verschiedenen geschichtlichen Epochen bis in die Gegenwart eingebracht und bearbeitet wurden: Die Spezifik des Holocaust war ein wesentlicher Gegenstand. Außerdem wurden der Genozid an den Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen untersucht, der Völkermord an der indigenen Ixil-Bevölkerung in Guatemala, die genozidalen Verbrechen an den Jesiden und Jesidinnen im Irak sowie die an der indigenen Bevölkerung in Brasilien.

„Diese Verbrechen werden begangen, während wir miteinander sprechen, jetzt in diesem Moment“, sagt Lena Hein, Masterstudentin der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, die an dem Seminar im Wintersemester teilgenommen hat. Es sei auch diese Aktualität der untersuchten Zusammenhänge von Recht und Literatur, so ihre Kommilitonin, Romanistikstudentin Anna Maria Roscher, weshalb das Seminarthema sie so beeindruckt habe.