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Wie global ist das Dorf?

Das Internet als Raum für eine weltweite politische Öffentlichkeit: Ein Forschungsprojekt stellt diese Vorstellung auf den Prüfstand

17.02.2021

Botschaft an Gott: Student Alon Nir steckt im September 2011 Twitter-Nachrichten in die Jerusalemer Klagemauer.

Botschaft an Gott: Student Alon Nir steckt im September 2011 Twitter-Nachrichten in die Jerusalemer Klagemauer.
Bildquelle: picture alliance

Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die gleißende Aura von Fortschritt und Völkerfreundschaft, die das Internet in seiner Frühphase umgab: Die Welt würde immer näher zusammenrücken, dachte man damals, Ideale von Freiheit und Gleichheit und Aufklärung würden sich über alle Kontinente verbreiten, die Demokratie überall triumphieren.

Soziale Medien als Plattform für Populisten

Derartiger Enthusiasmus hat jedoch inzwischen einige Kratzer abbekommen: Man denke an Phänomene wie Trolle, Shitstorms oder den Verdacht, soziale Medien könnten dafür anfällig sein, Populisten wie den früheren US-Präsidenten Donald Trump groß zu machen oder könnten gar demokratische Wahlen sabotieren.

Doch an einer Idee halten die meisten, ohne groß nachzudenken, weiterhin fest: Nämlich an der Vorstellung, mit dem weltumspannenden Medium Internet sei auch die Öffentlichkeit „global“. Dabei ist genau das alles andere als sicher.

Gemeinsame Forschung mit der Universität Wien der Hebrew University of Jerusalem

Die Kommunikationswissenschaftlerin Barbara Pfetsch von der Freien Universität nennt es die „Fantasie des globalen Dorfes“: Zwar erlaubten „die technischen Attribute des Mediums“ die Herstellung einer globalen Öffentlichkeit zumindest theoretisch. Aber, so die Professorin: „Man weiß nichts oder nur wenig darüber, wie sich das in dem konkreten Kommunikationsverhalten der Nutzerinnen und Nutzer niederschlägt.“

Die Frage, wie digitale Öffentlichkeit tatsächlich beschaffen ist, steht im Zentrum eines Forschungsprojekts, in dem Barbara Pfetsch mit Professorin Annie Waldherr von der Universität Wien und Professorin Neta Kligler-Vilenchik von der Hebrew University of Jerusalem zusammenarbeitet. Angesiedelt ist das Projekt am Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit Anfang 2018 an der Technischen Universität Berlin etabliert wurde, im Projektbereich „Räume der Kommunikation.“

Denn es ist – überraschenderweise, möchte man sagen – noch wenig erforscht, wie Kommunikation in den sozialen Medien räumlich strukturiert ist. Wie groß ist der Anteil an Posts und Tweets, der bloß daraus besteht, dass Absolventen und Absolventinnen desselben Abi-Jahrgangs untereinander Urlaubsfotos austauschen? Und wie groß jener aus den interkontinentalen Debatten um Themen, die für die Menschheit von Belang sind?

Forschungsobjekt: Twitter

Barbara Pfetsch, Annie Waldherr und NetaKligler-Vilenchik sowie die Mitarbeiterinnen Daniela Stoltenberg und Alexa Keinert haben bereits mehrere Studienabgeschlossen. Sie konzentrieren sich dabei auf Twitter, jene Plattform, die lange stets als „Kurznachrichtendienst“ bezeichnet wurde, weil Nutzer zu Beginn nur Posts im Umfang von 140 Zeichen absetzen konnten. Die Plattform biete tatsächlich – mehr als beispielsweise Facebook – eine Art von digitaler Öffentlichkeit, sagt Barbara Pfetsch, „in der Dinge von öffentlichem Belang thematisiert werden und Gegenstand von Diskussionen sind“.

Forschungsorte: Berlin und Jerusalem

Als Ausschnitte des digitalen Raumes haben die Forscherinnen Berlin und Jerusalem gewählt. „Beides sind ,globale‘ Städte mit digitalen Öffentlichkeiten und großen Datenmengen“, betont die Wissenschaftlerin. Zugleich seien die Metropolen Kontrastfälle: „Sie haben zwar beide eine Spaltungsgeschichte, doch diese ist in Berlin überwunden, während sie in Jerusalem andauert; dort sind die sozialen, religiösen und ethnischen Räume viel stärker segmentiert als in Berlin.“

Hilft Twitter bei der Überbrückung von Gräben? Bildet sich dank der Plattform eine lokale Öffentlichkeit im digitalen Raum? Nimmt diese teil an einer größeren, globalen Öffentlichkeit? Oder bleibt jede Gemeinschaft für sich, abgekapselt in ihrer lokalen Blase?

Erste Ergebnisse zeigen, dass die Diskussion über digitale öffentliche Räume neue Begriffe erfordert, damit man überhaupt sinnvoll darüber sprechen kann, wie sie strukturiert sind. Überwiegt das Lokale? Oder existiert das globale Dorf tatsächlich? Barbara Pfetsch konstatiert: „Es ist immer beides zugleich und auf eine komplexe Art ineinander verschränkt: Lokales wird zwischen Nutzerinnen und Nutzern in entfernten Ländern erörtert, zugleich wird über globale Themen unter Nachbarn online diskutiert.“

Barbara Pfetsch nennt es „eine neue Unübersichtlichkeit“, die sich zum Beispiel im Begriff des „Translokalen“ ausdrückt. Gemeint ist damit, „dass man gleichzeitig an mehreren Orten verankert sein kann, nämlich physisch und digital“ und dass sich damit – ähnlich wie beim Gegensatzpaar öffentlich und privat – Begriffe wie Distanz und Nähe auflösen oder zumindest brüchig werden.

Die Forscherinnen haben es mit einem Gegenstand – digitaler öffentlicher Raum – zu tun, der sich permanent verändert: Nicht nur weil die „User“, die ihn bewohnen, ihr Verhalten ändern, sondern weil auch die Plattformen fortwährend ihre Struktur – ihre Algorithmen – modifizieren. Facebook, Twitter, Instagram oder Clubhouse, seien wie „Inseln im Netz“, jede strukturiere Öffentlichkeit auf eine für diese Plattform eigene Weise.

In ständigen Rekonfigurationen, sagt Daniela Stoltenberg, fände man dann nicht ein undifferenziert globales Dorf, sondern sehr selektive Verbindungen zwischen Orten und eine starke Verankerung in lokalen Beziehungen: „Letztere aber sind nicht zufällig geformt, sondern durch soziale und politische Rahmenbedingungen, etwa Konflikte.“

In der gespaltenen Stadt Jerusalem zum Beispiel schafft Twitter unter palästinensischen und jüdisch-israelischen Usern fast keine digitalen Berührungspunkte, es überbrückt keine Gräben: Stattdessen aber gibt es translokale Verbindungen, von Ost-Jerusalem aus in den arabischen Raum hinein oder von West-Jerusalem aus zur jüdischen Diaspora in New York oder London.

In Berlin hingegen spielen der Studie zufolge auf Twitter lokale Themen eine stärkere Rolle als in Jerusalem: „User tauschen sich hier eher über Kultur, Sport oder den Verkehr aus. Und im nächsten Tweet über nationale oder transnationale Themen“, sagt Barbara Pfetsch.