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Warum Kafka nicht pfeifend die Treppe hochkommt

Der neu berufene Literaturprofessor Peter-André Alt forscht über den Prager Dichter

Am Anfang stand der Knall. Gerade hatte der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt mit seinem Vortrag über "Kafkas Selbstverständnis als Autor" im überfüllten Saal des Literaturhauses begonnen, als ein lautes Geräusch die andächtig lauschende Kafka-Gemeinde aufschreckte. "Niemandem ist etwas geschehen, nur eine Leiter ist umgefallen", beruhigte der 45jährige hagere Literaturprofessor belustigt und setzte wie jemand, der gewohnt ist vor großem Publikum zu sprechen, die Buchvorstellung zu seinem jüngst erschienen Werk über den Prager Dichter fort.

"Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft", lautet, ebenfalls mit Aplomb, der erste Satz von Alts monumentaler Biografie über Kafka. Unwillkürlich wird der Leser hineingezogen in das 750-seitige Buch, das mit gängigen Vorurteilen auf elegante, bisweilen detailversessene Weise aufräumt: Statt in Kafka hauptsächlich den Prager Einzelgänger zusehen, der seine "Ängste und Obsessionen in traumhaft-fantastischen Texten verarbeitet", betont Peter-André Alt die "komplizierte Verstrickung Kafkas in seine Epoche". Es sei ein alter biografischer Mythos, Kafka auf seinen Narzissmus und seine Lebensunfähigkeit zu reduzieren, redet sich der frischberufene Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin in Fahrt. Bei Alt begegnet der Leser deshalb einem Kafka in unterschiedlichen Rollen: dem flanierenden Kaffeehaus- und dem Bordell-Besucher, dem Reisenden, dem Kinogänger und Voyeur, dem Ironiker und dem Skeptiker. Alts Kafka ist ein Beobachter, der sämtliche Zeitströmungen des beginnenden 20. Jahrhunderts - den Zionismus, die Psychoanalyse, den Anarchismus und die Jugendbewegung - kritisch reflektiert: ein Kind seiner Epoche. In der gezielt angenommenen und kultivierten Rolle als "ewiger Sohn", der auf Ehe, Kinder, Besitz verzichtet, sieht der Professor indessen ein Lebensprinzip, das Kafkas künstlerische Identität erst ermöglicht. "Wer diese Selbstinszenierung als Tarnung durchschaut, erblickt einen sehr bewusst lebenden Zeitgenossen, dem seine kulturelle Umwelt niemals gleichgültig war."

Im Umgang mit "Säulenheiligen der deutschen Literatur" hat Alt Erfahrung: Vor erst fünf Jahren legte er eine fast 1500-seitige Schiller-Biografie vor, die die Medien rasch als unverzichtbares Standardwerk feierten. Im November wird ihm für diese umfassende Arbeit der renommierte Marbacher Schiller-Preis verliehen. Schon bei Schiller ließ der Vater zweier Söhne sich nicht vom lieb gewonnenen Klischee des weltfremden Hitzkopfes und innerlich zerrissenen Idealisten leiten, sondern präsentierte den Klassiker als virtuos agierenden Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Historiker und Philosophen im Kontext seiner Zeit.

"Ein Klassiker ist ein Autor, dessen Namen jeder kennt, ohne dass sein Werk gelesen wird", resümierte der als Sohn eines Steuerberaters im Berliner Westend Geborene in einem Interview und fügte hinzu: Andererseits zeichne einen Klassiker aus, dass man ihn immer wieder neu lesen und seinen Texten immer wieder neue Bedeutung zuschreiben kann. Diesem Dualismus versucht Alt auf hintergründig-paradoxe Weise zu begegnen: Im Bewußtsein, dass jede Biographie von Konstruktionen lebt, betrachtet er Literatur und Leben nicht als Gegensatz, sondern als Ordnungen, die einander wechselseitig spiegeln. Biografische Selbstentwürfe, Kulturgeschichte und Zeithistorie werden von ihm wie Texte gedeutet, die auf ähnliche Weise organisiert sind wie die Literatur selbst. Dieses methodisch reflektierte Verfahren kann nur jemand praktizieren, der es gewohnt ist, leidenschaftlich gern zu lesen, das philologische Handwerk von Grund auf gelernt hat und sich seit Jahren mit dem uvre seiner Autoren beschäftigt. So ist es kein Zufall, dass Alt für den Prager Dichter Kafka eine lebenslange Begeisterung hegt. Als 14jähriger Schüler stieß er beim Stöbern in der Bibliothek seines Vaters auf den "Wendekreis des Krebses" von Henry Miller, dessen Klappentext den amerikanischen Skandalautor mit Kafka verglich. Seit dem liest der Jazzpiano-Fan und Theaterliebhaber Alt Kafka.

"Kafka hat nicht selten in seinen poetischen Arbeiten Konstellationen der eigenen Vita vorweg genommen", sagt Alt und berichtet, wie Kafkas schließlich tödlich verlaufende Tuberkulose in der Wunde des Jungen seiner Erzählung "Ein Landarzt" vorweggenommen sei. Mit einer gewissen Freude an der nüchternen Betrachtungsweise des Wissenschaftlers arbeitet Alt gerade aus dem scheinbar Irrealen, den Visionen und Träumen seines Autors die Linien verschlungener Lebensentwürfe heraus. Es ist ihm wichtig, dass seine Werkbiografien hohen intellektuellen Ansprüchen genügen, gerade weil er das Genre für eine problematische Angelegenheit hält. Der arbeitseifrige Literaturprofessor sucht sich daher einen analytischen Blick auf sein Material zu bewahren und freie Erfindungen streng zu meiden: "Bei mir kommt Kafka nicht pfeifend die Treppe hoch."

Wenn Alt Kafkas traumanaloge Prosa untersucht, begibt er sich auf ihm vertrautes wissenschaftliches Terrain: Schon 2002 erschien seine Monografie "Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit." In ihr wendet sich Alt vor allem seiner Lieblingsepoche, dem von Wunderlichkeiten und Obskurem beherrschten 17. Jahrhundert zu, über das er schon mehrere Grundlagenstudien verfasst hat.

Die Frage nach dem Geheimnis von so viel Produktivität ist dem notorischen Frühaufsteher Alt vertraut. Bevor seine beiden heute 13 und 15 Jahre alten Söhne geboren worden seien, habe er gern wie Kafka die Nacht zum Schreiben genutzt. Seither sitzt er morgens um sechs am Schreibtisch und hat damit schon drei Stunden konzentriert gearbeitet, wenn der universitäre Alltag mit Lehrveranstaltungen und Gremiensitzungen beginnt. "Die langen Spaziergänge, wie sie Thomas Mann mit seinem Hund unternommen hat, wären bei meinem Zeitbudget nicht drin", erzählt der Literaturprofessor, der Goethes "Werther", Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" und Sigmund Freuds "Traumdeutung" auf eine einsame Insel mitnehmen würde.

Auch seine Familie unterstütze sein Schreiben, sagt Alt, und bezeichnet seinen über achtzigjährigen Vater als seinen aufmerksamsten Leser. Seine Frau Sabine arbeitet hauptberuflich als Autorin. "Die Literatur verbindet uns. Meine Frau hält mich dazu an regelmäßig Gegenwartsliteratur zu lesen", meint Alt mit einem Augenzwinkern und berichtet nicht ohne Stolz, dass sein ältester Sohn an einem Abenteuerroman schreibt, dessen Entstehung der jüngere als strenger Kritiker mit skeptischen Kommentaren begleitet. Kennen gelernt hat sich das Ehepaar vor 20 Jahren in der Germanistischen Bibliothek der Freien Universität Berlin, die noch auf eine andere Art zu Alts Schicksalsort wurde. Anstatt an seinem ersten Studientag in die Anatomievorlesung zu gehen, war der Medizinstudent Alt nämlich unversehens in eine Führung durch die Germanistische Bibliothek geraten. Und wechselte, begeistert von den dort versammelten Bücherschätzen, nach wenigen Wochen ins Studienfach Germanistik, mit den beiden Nebenfächern Philosophie und Politologie. Bereits mit 24 Jahren war Alt mit einer Arbeit über Thomas Mann und Robert Musil promoviert. 1986 bot ihm der Literaturwissenschaftler Hans-Jürgen Schings, der gerade aus Heidelberg an die Freie Universität Berlin gekommen war, eine Assistentenstelle an; Schings' methodisch strenge Quellenphilologie präge ihn bis heute, so Alt. Auch danach ging es Schlag auf Schlag. Nach der Habilitation über die Allegorie in der Literatur der Frühen Neuzeit erhielt er 1995 einen Lehrstuhl in Bochum. Im Jahr 2002 wechselte er an die Universität Würzburg und pendelte seitdem nach Berlin, wo seine Familie inzwischen lebte. Jetzt kann er von seiner Zehlendorfer Villa mit dem Fahrrad an das Institut für Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin fahren. Dort wird er im kommenden Wintersemester seine erste Vorlesung halten: "Vom barocken Trauerspiel zum bürgerlichen Familiendrama". Auch freut sich Alt, der den universitären Unterricht für eine zentrale Komponente seiner Arbeit hält, auf den Dialog mit den Studierenden. "Die bei mir entstandenen Seminararbeiten werden von mir gründlich gelesen und in der Sprechstunde detailliert erörtert."

"Nein", eigentlich wolle er so schnell keine neue Biografie mehr schreiben. Im Mittelpunkt seines neuen Forschungsprojekts steht kein einzelner Autor, sondern die Nachtseite der Literatur: die Ästhetik des Bösen. Im Zusammenhang damit plant der zumeist dunkel gekleidete Alt bereits eine interdisziplinäre Universitätsvorlesung über das Thema: "Der Teufel - Stationen einer kulturgeschichtlichen Karriere".

Das Buch "Franz Kafka – Der ewige Sohn. Eine Biographie" von Peter-André Alt ist 2005 im Verlag C.H. Beck erschienen und kostet 34,90 Euro (ISBN 3-406-53441-4).

Von Felicitas von Aretin