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Ein Feiertag für die ganze Universität

Abendlicher Festakt zum 70. Gründungsjubiläum der Freien Universität Berlin / Tagsüber hatten Institute und Fachbereiche im Rahmen eines „dies academicus“ gefeiert

05.12.2018

Für viele war es ein Wiedersehen nach Jahrzehnten: Unter den rund 1300 Gästen, die am Dienstagabend in den Henry-Ford-Bau gekommen waren, um den siebzigsten Geburtstag der Freien Universität zu feiern, waren zahlreiche Studentinnen und Studenten der ersten Jahre. Darunter sogar einige derjenigen, die im Jahr 1948 mitgeholfen hatten, die Freie Universität zu gründen. Eine Universität, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Freiheit und Demokratie zu lehren, wie Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in ihrer Festrede sagte. Gelegenheit für einen Blick zurück gab es auch außerhalb des Festsaals: Aus Anlass des runden Geburtstages hatte die Universität universitätsweit einen „dies academicus“ zu Geschichte und Gegenwart der Universität ausgerufen.

Es rauscht und knistert – der Reporter des Radiosenders Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS Berlin) ist schwer zu verstehen, er berichtet offenbar live aus dem Titania-Palast in Steglitz von der Festveranstaltung zur Gründung der Freien Universität am 4. Dezember 1948; im Hintergrund ist Ernst Reuter zu hören, der spricht. Die elektrisierte Atmosphäre unter den geladenen Gästen – den „Spitzen der demokratischen Berliner Organe“ und vielen Studentinnen und Studenten – überträgt sich auf die Zuhörer von heute: In jenem Moment wurde Geschichte geschrieben. Und sie ereignete sich nicht einfach so, sondern junge Männer und Frauen haben ihr Schicksal in die Hand genommen und „ihre eigene Universität“ gegründet, sie praktisch „aus dem Boden gestampft“, wie es der RIAS-Reporter den Zuhörerinnen und Zuhörern vor den Radioapparaten erklärt.

Mit diesem historischen Zeugnis begann der Jubiläums-Festakt im Max-Kade-Auditorium der Freien Universität Berlin – auf den Tag genau 70 Jahre später. Doch was hatte zur Gründung der Freien Universität geführt und inwiefern ist der Wunsch nach Freiheit, der ihrer Gründung zugrunde lag, auch heute noch eine Verpflichtung? Auf diese Fragen gab es an diesem Abend verschiedene Antworten.

Eine gab die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die 2005 als erste Heiner-Müller-Gastprofessorin in Dahlem gelehrt hat und nun den Festvortrag hielt. Die aus Rumänien stammende Autorin schilderte auf berührende Weise, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. „Freiheit ist immer konkret“, sagte sie. „Sie ist da oder sie fehlt.“ Wenn sie fehle, fehle sie in jeder Sache. Was das Regime erlaubt habe, habe sie sich selbst verboten – denn das sei keine Freiheit gewesen, sondern allenfalls kleines Zugeständnis des Systems. Zwar habe ihr die Literatur geholfen – „im Inhalt der Sätze konnte ich sein wie in einem warmen Zimmer“. Doch: „Alle Bücher haben eine letzte Seite.“ Und wie könne man leben mit dem, was man denkt, ohne es sagen zu können? Noch heute – obwohl sie jetzt ebenso lange in Freiheit lebe, wie sie in der Diktatur gelebt habe – seien ihre Erfahrungen in der Diktatur der Maßstab für die Freiheit geblieben: „Was ich über Freiheit gelernt habe, habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt.“

Herta Müller beschrieb diese Mechanismen auch anhand ihrer Erfahrung als 25-Jährige als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik. Damals übertrug sie fremdsprachliche Bedienungsanleitungen ins Rumänische. Einem Anwerbeversuch der rumänischen Staatssicherheit widerstand sie und musste fortan tägliche Schikanen erdulden. Schließlich wurde sie entlassen – doch mit dem Gefühl der Freiheit kam auch das Gefühl einer „großen Verlassenheit“.

Die Freie Universität, sagte die Autorin in ihrer Rede, sei nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs gegründet worden, damit an ihr Freiheit und Demokratie gelehrt werde. Und mit Blick auf die Entwicklungen in vielen osteuropäischen Ländern, die nach einer kurzen Zeit der Freiheit nun wieder zurückkehrten zu autoritären Strukturen und Unfreiheit, fügte sie an: „Heute brauchen wir die Universitäten, um Freiheit und Demokratie nicht zu verlernen.“ Freiheit müsse immer wieder neu erlernt und gelebt werden, denn: „Freiheit steht nicht still.“

Vielfalt und Engagement

Die Überzeugung, dass Freiheit, auch Wissenschaftsfreiheit, nicht nur als Idee existieren dürfe, hatte die Gründungsstudenten 1948 angetrieben, die Berliner Universität Unter den Linden, die spätere Humboldt-Universität, zu verlassen und eine neue Universität im Westteil der Stadt zu gründen.

Einer der Gründungsstudenten, Klaus Heinrich, später Professor für Religionswissenschaft in Dahlem, erzählte in der von dem Historiker Professor Paul Nolte moderierten Podiumsdiskussion von dieser Zeit. Sie seien nach dem Krieg in einem „Freiheitsrausch“ gewesen, Studierende und Lehrkräfte gleichermaßen, einige waren im Nationalsozialismus verfolgt worden.

Schon kurze Zeit nach ihrer Gründung hatte sich die Freie Universität etabliert. Klaus Heinrich erinnerte sich, wie er nur sechs Jahre nach der Gründung von einem Enkel Henry Fords einen riesigen Schlüssel erhalten hatte, um ein ebenso großes Schloss symbolisch aufzuschließen, denn ganz bezugsfertig war der erste Neubau für die Wissenschaft im Nachkriegs-Berlin noch nicht. Mehr als acht Millionen D-Mark hatte die junge Universität hierfür von der Ford Foundation erhalten. Ein Bau, der – wie an diesem Abend mehrfach deutlich wurde – zu einem Schauplatz entscheidender Momente der Universitätsgeschichte wie auch individueller Bildungsbiografien geworden ist.

So auch im Leben von Gesine Schwan, die 1962 ihr Studium an der Freien Universität begonnen hatte und von 1977 bis 2005 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft lehrte. Sie habe im Audimax 1956 den Film „Die letzte Etappe“ der polnischen Regisseurin Wanda Jakubowska gesehen, den ersten Film über Auschwitz überhaupt; und in den 1960er-Jahren hatte sie, so berichtet Schwan, versucht, einem Vortrag Theodor W. Adornos zu folgen, bis ihr klar geworden sei, dass sie sich im falschen Vortrag befand.

Auch Sawsan Chebli, heute Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales, erinnerte sich an derartige Momente des Nichtverstehens. Am Anfang, erzählte sie im Podiumsgespräch, habe sie sich oft gefragt, wie lange sie es an der Universität noch aushalten werde: „Ich war die einzige, die nicht deutsch aussah“, sagte Chebli, deren Familie aus dem Libanon nach Berlin gezogen war. Doch sie blieb – und ist heute dankbar dafür.

Tuba Arıkan, Studentin im Masterstudiengang Public History und ebenfalls Gesprächspartnerin bei der Diskussion, wünschte der Freien Universität für die Zukunft, „dass sie noch mehr ein Ort wird, an dem viele unterschiedliche Menschen sich entfalten können“.

Vielstimmigkeit sei der Freien Universität in die Wiege gelegt worden, sagte Paul Nolte. Streit habe die Freie Universität in heftige Verwerfungen geführt „und ihr Wunden zugefügt, die zu heilen lange dauerte“. Zugleich sei „1968“ ein Auftrag und ein Vermächtnis geblieben: „Das Gründungsgen einer politischen Universität ließ sich nicht mit der Genschere eines akademischen Quietismus wegschneiden.“ Auch wenn sich vieles – nicht zuletzt der Dahlemer Campus – rasant verändert habe, sei die Freie Universität die „freundliche akademische Streusiedlung geblieben, als die sie notgedrungen gegründet worden war“.

Siegerehrung: Die Gewinner des diesjährigen Videowettbewerbs der Freien Universität hatten Filme zum Motto 70 Jahre Campus international“ eingereicht. Die Preise wurden von Peter Lange, Vorstandsvorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft, verliehen.

Siegerehrung: Die Gewinner des diesjährigen Videowettbewerbs der Freien Universität hatten Filme zum Motto 70 Jahre Campus international“ eingereicht. Die Preise wurden von Peter Lange, Vorstandsvorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft, verliehen.
Bildquelle: Regina Sablotny

Verbindungen in alle Welt

Dass diese immer bunter wird, zeigten die im diesjährigen Videowettbewerb prämiierten Filme, deren Macherinnen und Macher an diesem Abend ausgezeichnet wurden. „Campus International“ hieß das Thema. Der Publikumspreis ging an einen Film von Rocio Vera Santos über ein Projekt am Lateinamerika-Institut der Freien Universität mit dem Titel „Erzählungen von Entwurzelung“. Die Jury wählte den Film „Memories of a living structure“ von Daniela García del Pomar, Paul Holdsworth und Jens Kraushaar auf den ersten Platz.

Wie international vernetzt die Freie Universität ist, zeigten die Videobotschaften, mit denen die Präsidenten und Rektoren der strategischen Partneruniversitäten gratulierten. „Massel tov“ – „viel Glück“ wünschte die Hebrew University of Jerusalem und die Universität Sankt Petersburg gratulierte ihrem „alten Freund Freie Universität“. Der Rektor der Universität Zürich wünschte auf Schwyzerdütsch ein „gelungenes Fest“, und die kanadische University of British Columbia sowie die chinesische Peking University sendeten Grüße zum runden Geburtstag.

Wissenschaftsfreiheit bleibt eine Aufgabe

Internationalisierung als Aufgabe der Universität hob auch Michael Meister, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, hervor. Hier gehe es darum, „Brücken zu bauen“, aber auch „Werte und Qualitätsansprüche“ – für die auch die Freie Universität mit ihrer Geschichte stehe – weiterzutragen. Die Studierenden ermutigte er, die „Wissenschaftsfreiheit, die frühere Generationen erkämpft haben“, zu nutzen und zu verteidigen: „Bleiben Sie kreativ und skeptisch!“

Die Freie Universität präge ihre Absolventinnen und Absolventen, betonte Steffen Krach, Staatssekretär Wissenschaft und Forschung beim Berliner Senat, der vor 16 Jahren selbst ein Studium in Dahlem begann. „Damals ahnte ich nicht, dass ich auf dieser Bühne einmal der Freien Universität zum Siebzigsten gratulieren würde. Ohne die Freie Universität wäre Berlin eine andere, eine ärmere Stadt“, sagte Krach, der Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler eine Geburtstagstorte überreichte.

Der Universitätspräsident erzählte, dass sich ihm – in einem „behüteten Münchner Vorort aufgewachsen“ – die Frage nach der Freiheit lange nicht gestellt habe. „Ich hielt sie für selbstverständlich.“ Dass sie es nicht ist, habe er etwa durch die Lektüre von Marie Luise Kaschnitz erfahren.

Heute, „in Zeiten, in denen populistische Bewegungen stärker werden und die Lehr- und Forschungsfreiheit in vielen Teilen der Welt durch autoritäre Regierungen bedroht ist“ – wie ja auch Herta Müller für Osteuropa noch einmal deutlich gemacht hatte –, sei es wichtig, als Universität nicht nur regional und national, sondern auch global Verantwortung zu übernehmen. „Freiheit ist nicht selbstverständlich: Sie muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden und bleibt für unsere Universität Verpflichtung und Anspruch zugleich.“

„Sie hat sich prima entwickelt“

Wer hätte all das ahnen können, als Studierende 1948 im „Rausch der Freiheit“ ihre „eigene Universität“ gründeten und dafür in einen alten Kinosaal luden, weil Berlin in Trümmern lag: Dass die Freie Universität einmal ein „Hotspot“ der Studentenbewegung werden würde, dass sie durch die vielen Studierenden in den 1980er Jahren fast aus allen Nähten geplatzt wäre und sich durch den Fall der Mauer auf einmal am Rand der deutschen Hauptstadt wiederfand.

Heute ist sie – wie alle Gratulanten hervorhoben – eine international anerkannte Spitzenuniversität. Medizinprofessor Karol Kubicki gehörte wie Klaus Heinrich 1948 zu dem 16 Personen umfassenden „Gründungsausschuss“ und hatte damals die Matrikelnummer 1 der Freien Universität gelost. „Die Freie Universität hat sich prima entwickelt“, sagte der heute 92-Jährige, der bei der Geburtstagsfeier selbstverständlich ganz vorne im Publikum saß. „Ich benutze das Wort 'stolz‘ eigentlich nicht, aber wenn ich es benutzen würde, dann für die Freie Universität.“

Weitere Informationen

Bitte beachten Sie: Der Beitrag über den dies academicus wird in den kommenden Tagen noch ergänzt, ebenso werden in die Bildergalerien noch weitere Fotos eingestellt. Die Festrede von Herta Müller wird in Kürze ebenfalls online veröffentlicht.