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Nicht aufhören, einander zuzuhören: Interdisciplinary Studies of the Middle East

Ein Masterstudiengang an der Freien Universität Berlin zeigt, dass die Region Naher Osten nur in ihrer Vielfalt verstanden werden kann

11.04.2024

Um einer Sache näherzukommen, hilft zuweilen Distanz. Auf den Masterstudiengang ISME trifft das in vielerlei Hinsicht zu.

Um einer Sache näherzukommen, hilft zuweilen Distanz. Auf den Masterstudiengang ISME trifft das in vielerlei Hinsicht zu.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Eigentlich wollte Juri Ammari nur sein Arabisch verbessern. Er arbeitete in Berlin bei einer Hilfsorganisation für syrische Geflüchtete, als er von dem Studiengang ISME an der Freien Universität Berlin hörte, kurz für „Interdisciplinary Studies of the Middle East“.

Ein neues Masterprogramm rund um den Nahen Osten, das klang spannend: Juri Ammari, in einem interkulturellen Haushalt mit einer litauischen Mutter und einem arabischen Vater aufgewachsen, bewarb sich und wurde in die erste Kohorte des Studiengangs aufgenommen, die 2020 startete.

Blick erheblich geweitet

„Es war eine prägende, äußerst hilfreiche Erfahrung für mich, sowohl persönlich als auch beruflich“, sagt er heute. „Mein Blick auf den Nahen Osten begann mit einem ethnozentrischen, arabischen Stolz – und hat sich mit dem Studium erheblich geweitet.“ Dazu hätten ganz besonders die Kommilitoninnen und Kommilitonen beigetragen, erzählt Juri Ammari. Von jüdischen, kurdischen, persischen und vielen weiteren Studierenden habe er ganz neue Sichtweisen kennengelernt.

Die Studierenden sind so vielfältig wie der Nahe Osten selbst. Nur eine Handvoll hat einen Bachelorabschluss aus Deutschland, fast 90 Prozent von außerhalb Europas. Eine größere Gruppe hat in der Türkei studiert, sonst sind von Afghanistan bis Qatar alle Länder der Region vertreten.

Um einer Sache näherzukommen, hilft zuweilen Distanz. Auf ISME trifft das in vielerlei Hinsicht zu: Hier studiert man den Nahen Osten fernab der Region; unterrichtet wird in keiner Sprache der Region, sondern auf Englisch. Der Studiengang hat nicht eine akademische Disziplin als Referenzpunkt, sondern bringt Fächer ins Gespräch, die sich jeweils auf einzelne Kulturen des Nahen Ostens und ihre Sprachen und Geschichte spezialisieren, darunter Arabistik, Iranistik, Kurdische Studien, Islamwissenschaft, Semitistik, Judaistik, Turkologie und Osmanistik. All das sollte eine möglichst diverse Zielgruppe für das Studium interessieren.

Sie sei überrascht, wie gut das funktioniere, sagt Victoria Mummelthei vom Seminar für Arabistik und Semitistik. Zusammen mit Lukas Mühlethaler vom Institut für Judaistik koordiniert sie den Studiengang. „Die Studierenden treffen hier auf Menschen, mit denen sie sonst nichts zu tun hätten“, sagt die promovierte Arabistin.

Die Motivation für das Studium sei individuell sehr verschieden: „Jede Person erzählt eine Geschichte“, sagt Lukas Mühlethaler. Die einen strebten eine Promotion an, andere wollten die regionale Expertise für ihren Beruf nutzen. Viele Studierende treibe kein Karrierekalkül an, sondern ihr ganz persönliches Interesse, sich über den Nahen Osten klarzuwerden. „Die Studierenden finden zudem ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen interessant“, sagt der Judaistikprofessor.

Zusammenhänge entdecken

Der Studienplan lässt Studierende ihre Interessen verfolgen und dabei neue Verbindungen knüpfen. Nur in einem Rahmenprogramm sind die ISME-Studierenden unter sich, den Kern des Curriculums bildet das Lehrangebot der  Einzeldisziplinen. Die Seminare in diesen sogenannten kleinen Fächern, die für die Freie Universität profilbildend sind, seien hochattraktiv, bislang aber nur Studierenden der Fachmaster zugänglich gewesen, sagt Lukas Mühlethaler. Nun bereicherten ISME-Studierende die Debatten mit neuen Perspektiven.

Doch auch außerhalb des Fachbereichs, selbst an anderen Universitäten, können die Studierenden Module belegen. „Sie finden Verbindungen und gehen in Kurse, an die wir gar nicht gedacht haben“, sagt Victoria Mummelthei. Polina Shablovskaia hat von dieser Freiheit Gebrauch gemacht. Sie hatte Nahost-Geschichte und Linguistik in Sankt Petersburg studiert, bevor sie sich um das ISME-Programm in Berlin bewarb. Als Mutter von zwei kleinen Kindern ist ihr Flexibilität besonders wichtig. Ihr Studium beschreibt sie wie ein Puzzle: „Man kann unterschiedliche Teile zusammenfügen, sodass daraus ein Gesamtbild entsteht.“

Gemeinsam mit weiteren ISME-Studierenden gehörte Polina Shablovskaia zu einer X-Student Research Group, einer  Nachwuchsforschungsgruppe der Berlin University Alliance (BUA), dem Verbund der großen Berliner Hochschulen im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder.

Zwei Semester lang untersuchte Shablovskaia die ethnologische Sammlung im Humboldt Forum und stellte neue Bezüge zu und zwischen den ausgestellten Objekten her. Mit einer Kommilitonin der Humboldt-Universität hat sie eine digitale Landkarte erstellt, die sie im Humboldt Forum ausstellen konnte. Eine narrative Verarbeitung des Themas hat sie im Anthropologie-Journal „Etnofoor“ eingereicht, im Sommer spricht sie darüber auf einer Konferenz in London. Das Projekt sei sehr inspirierend gewesen. „Es hat mir gezeigt, wie die Zusammenarbeit in einem Forschungsteam in der Praxis aussieht“, sagt Polina Shablovskaia, die bereits Pläne für eine Promotion schmiedet.

Ambiguitäten aushalten

Das Wiederaufflammen des Nahostkonflikts seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem andauernden Krieg in Gaza habe den ISME-Studierenden die Aktualität der Geschichte bewusst gemacht, sagen Mummelthei und Mühlethaler. Der aktuelle Konflikt wurde in Seminaren intensiv diskutiert. In WhatsApp-Gruppen sei der Ton besonders emotional  geworden, berichtet Juri Ammari. Einige klärende Gespräche hätten die Wogen aber wieder geglättet.

„In den Chats haben viele gesagt, dass wir in einem solch interdisziplinären Master uns auf gute Weise über dieses Thema austauschen können müssen“, sagt Ammari. „Es war prima, das von Leuten zu hören, die nicht unbedingt die gleiche politische Ansicht haben.“ Die Studierenden hätten nicht aufgehört, einander zuzuhören, sagt Lukas Mühlethaler. „Weil sie erfahren haben, dass sie auf einer persönlichen Ebene mit den anderen sehr gut können, hat der Konflikt den Diskurs nicht abbrechen lassen.“

Er und Victoria Mummelthei riefen in einem Statement im November dazu auf, den respektvollen Dialog zu wahren. „Es ist sehr wichtig, dass wir ganz klar Position für Diversität, einen offenen Diskurs und akademische Freiheit beziehen“, sagt Lukas Mühlethaler – zumal sich viele Studierende deshalb für ISME entschieden hätten, weil sie ein  ähnliches Studium in den meist autoritär regierten Ländern der Region nicht aufnehmen konnten oder wollten.

Einfache Wahrheiten gebe es in Bezug auf den Nahen Osten nie: „Es ist nicht schwarz und weiß, es ist überhaupt nicht simpel, es ist auch nicht simplifizierbar“, sagt Victoria Mummelthei. Das Ziel von ISME sei nicht, politische Konflikte und den Streit zwischen verschiedenen Disziplinen zu überdecken. Spannungen gehörten dazu, das hätten die Studierenden gelernt, sagt Lukas Mühlethaler: „Wenn man den Nahen Osten erforschen will, muss man Ambiguitäten aushalten.“