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Vortrag von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel: Der Nahostkonflikt und wir

Auftakt einer Reihe an der Freien Universität Berlin zum Nahostkonflikt

05.02.2024

Treten für den Dialog ein: Meron Mendel und Saba-Nur Cheema bei ihrem Vortrag am 29. Januar 2024 an der Freien Universität Berlin. | Aufzeichnung der Veranstaltung, Quelle: Freie Universität Berlin

Was macht der 7. Oktober 2023 mit uns? Wie positionieren wir uns, was lösen der Terroranschlag der Hamas und der bis heute andauernde Krieg zwischen Israel und der Hamas aus? Warum emotionalisiert der Nahostkonflikt – schon vor dem 7. Oktober, aber noch mehr seitdem – so viele Menschen in Deutschland? Darunter auch viele, die womöglich gar keine persönliche Beziehung in die palästinensischen Gebiete oder nach Israel haben?

Das Interesse war groß: Der Hörsaal im Henry-Ford-Bau war gut besucht von Mitgliedern der Freien Universität Berlin und Interessierten von außerhalb.

Das Interesse war groß: Der Hörsaal im Henry-Ford-Bau war gut besucht von Mitgliedern der Freien Universität Berlin und Interessierten von außerhalb.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Darüber sprachen Meron Mendel und Saba-Nur Cheema am 29. Januar im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin. Das Publikumsinteresse an der Veranstaltung war sichtbar groß und der rund 350 Plätze umfassende Hörsaal voll besetzt.

Den beiden ausgewiesenen Experten für Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und für Bildungsarbeit zu eben diesen Themen gelingt es wie nur wenigen, mehrere Perspektiven nachzuvollziehen: die pro-israelische ebenso wie die pro-palästinensische.

Meron Mendel, in den 1990er Jahren in einem Kibbuz in Israel aufgewachsen, lebt seit 2003 in Frankfurt am Main. Er ist Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Saba-Nur Cheema, in Frankfurt am Main aufgewachsen, Tochter pakistanischer Flüchtlinge, ist Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität in Frankfurt. Meron und Cheema sind miteinander verheiratet, sie schreiben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die monatliche Kolumne „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“. Die beiden sind wichtige Stimmen in der Debatte, wie mit dem Widerhall des Nahostkonflikts in Deutschland am besten umzugehen sei.

Vizepräsidentin Professorin Verena Blechinger-Talcott begrüßte Saba-Nur Cheema und Meron Mendel und moderierte mit Professor Rainer Kampling die anschließende Diskussion.

Vizepräsidentin Professorin Verena Blechinger-Talcott begrüßte Saba-Nur Cheema und Meron Mendel und moderierte mit Professor Rainer Kampling die anschließende Diskussion.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin, Professorin Verena Blechinger-Talcott, gab den Rahmen der Veranstaltung und der sich anschließenden Reihe vor: Natürlich führe das, was in Israel und Gaza passiere, zu Trauer, Mitgefühl und Wut, manchmal auch zu Konflikten in Deutschland und auch an der Freien Universität. Universitäten könnten die Probleme der Welt nicht lösen, aber sie könnten sie erklären, einordnen, sie könnten Erklärungen einfordern und zur Selbstaufklärung beitragen: solange sie eine offene und respektvolle Dialogkultur bieten.

Was letztere angeht, so mögen manche Außenstehende nach den Medienberichten der vergangenen Monate fast überrascht gewesen sein, wie unaufgeregt und konstruktiv diese öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema Nahostkonflikt an der Freien Universität verlief. Ob es an den Vortragenden lag oder an der zeitlichen Distanz zum Anschlag der Hamas, ob es daran lag, dass das Klima an den Universitäten am Ende doch nicht so polarisiert ist, wie in manchen Medienbeiträgen dargestellt: Der Vortrag von Cheema und Mendel war eine Einladung zur Reflexion, zur Selbstreflexion, die keine hitzigen Debatten befeuerte, sondern zum Nachdenken anregte.

Warum emotionalisiert der Nahostkonflikt – schon vor dem 7. Oktober, aber noch mehr seitdem – so viele Menschen in Deutschland?

Warum emotionalisiert der Nahostkonflikt – schon vor dem 7. Oktober, aber noch mehr seitdem – so viele Menschen in Deutschland?
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Meron Mendel skizzierte zunächst, wie der Nahostkonflikt als Projektionsfläche dient: Wie unsere Positionierungen und Reaktionen mehr über uns aussagen als darüber, worauf wir reagieren und wozu wir uns positionieren. Über unsere Identität, unsere Selbstverortung in der Welt. Ablesbar sei das auch daran, wie stark die Debatte um den Nahostkonflikt emotionalisiert, wie hoch die Wogen schlagen, auch bei Menschen, die gar keine persönliche oder familiäre Beziehung entweder zu Palästinenser*innen oder Israelis haben.

Mendel argumentierte, der Nahostkonflikt erfülle „für uns die Funktion, uns in unserer eigenen Position oder unserer Identität zu bestätigen“. Man könnte auch sagen: in der Geschichte, die wir über uns selber erzählen. Denn es prallten dort zwei Meta-Erzählungen aufeinander: einerseits ein Post-Holocaust Narrativ, das davon handelt, was und wie wir aus der deutschen Geschichte gelernt haben; andererseits eine postkoloniale Erzählung, die Israel als Vorposten des Westens im Nahen Osten wahrnimmt und sich mit den „Schwachen“, den „Unterdrückten“ gegen die von den USA und dem Westen unterstützen Israelis identifiziert. Diese Narrative hätten schon vor dem 7. Oktober 2023 bestanden.

Saba-Nur Cheema erläuterte daran anknüpfend, welche Form die beiden Narrative in den vergangenen vier Monaten angenommen haben: Auf der einen Seite Kritik daran, dass offenbar für manche das Leben von Jüdinnen und Juden nicht zähle – „Jewish lives don’t matter“ –, etwa wenn das blutige Massaker der Hamas von einigen bejubelt oder von anderen beschwiegen wird. Das gegenläufige Narrativ umschrieb Cheema als Vorwurf des „Silencing von palästinensischen Stimmen“, wenn also Schriftsteller*innen oder Künstler*innen ausgeladen werden oder Schulen das Zeigen von palästinensischen Symbolen oder Fahnen verbieten.

Diese beiden entgegengesetzten Diskurse reichen von einem Teil der sozialen Medien, in denen völlig verkürzte Darstellungen und teils auch Falschinformationen des Nahostkonflikts grassieren, bis zu Äußerungen von Bundes- oder Landesminister*innen, die die Einbürgerung an Bekenntnisse zu Israel knüpfen wollen oder gar die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft von Menschen mit Migrationshintergrund fordern. Letzte Auswüchse wären der Boykottaufruf „Strike Germany“ auf der einen und die sogenannte „Antidiskriminierungsklausel“ des Berliner Senats, die am Ende doch wieder zurückgenommen wurde, auf der anderen Seite.

Zum Ende ihres Vortrages schlugen Mendel und Cheema einige Grundsätze für eine konstruktive Debatte vor, quasi Prämissen für Diskutantinnen und Diskutanten, auf deren Basis ein konstruktives Gespräch erst möglich wird: die Aufforderung zur universellen Empathie, Mindeststandards wie die Anerkennung des Existenzrechts Israels ebenso wie das Recht der Palästinenser*innen auf einen eigenen Staat, Ablehnung von Terror, keine NS-Vergleiche, keine Partei sei alleine schuld am Nahostkonflikt.

Saba-Nur Cheema, Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität in Frankfurt, ist seit vielen Jahren in der politischen Bildungsarbeit tätig.

Saba-Nur Cheema, Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität in Frankfurt, ist seit vielen Jahren in der politischen Bildungsarbeit tätig.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die anschließende Diskussion war ebenso offen und selbstreflexiv wie der Vortrag der beiden: Man fragte nach Vorbildern für eine produktive Diskussionskultur, nach Lösungen, nach einem gelingenden Umgang mit heiklen Fragen. Was es auch jetzt nicht gab: aufgeheizte Polarisierung, erregte Verbalinjurien. Man mag es der Gesprächsreihe wünschen, dass dies so bleibt.

Weitere Informationen

Am 25. Januar 2024 sind mit dem Vortrag „Intersektionalität und Antisemitismus – Kritik und neue Perspektiven“ von Prof. Dr. Karin Stögner, Professorin für Soziologie an der Universität Passau, die Aktionswochen der Freien Universität Berlin gegen Antisemitismus gestartet. Bis Ende der Vorlesungszeit des Wintersemesters werden dezentral an den Fachbereichen Veranstaltungen stattfinden. Initiiert wurden sie von Lehrenden verschiedener Institute: Das Thema Antisemitismus soll in öffentlichen und hochschulöffentlichen Veranstaltungen, Seminaren und Vorlesungen diskutiert werden.