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„Wie können wir die Tracing-App gestalten, damit sie auch genutzt wird?“

campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ / Teil 10: Informatikprofessorin Claudia Müller-Birn über die Entwicklung der Corona-Tracing-App

12.05.2020

Die App-Software sollte partizipativ gestaltet sein, damit die Menschen den verwendeten Ansatz verstehen und ihrem Einsatz vertrauen können, sagt Informatikprofessorin Claudia Müller-Birn.

Die App-Software sollte partizipativ gestaltet sein, damit die Menschen den verwendeten Ansatz verstehen und ihrem Einsatz vertrauen können, sagt Informatikprofessorin Claudia Müller-Birn.
Bildquelle: shutterstock.com/khaleddesigner

Was verändert sich durch die Corona-Pandemie? Welche Folgen hat sie für das Leben jedes Einzelnen, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur? Seit mehreren Wochen ist die Veröffentlichung einer Corona-Tracing-App im Gespräch – also einer mobilen Anwendung, die über Bluetooth soziale Kontakte erfassen kann und über die im Infektionsfall Betroffene über eine Ansteckung informiert werden. Leon Holly sprach über die Entwicklung der App mit Informatik-Professorin Claudia Müller-Birn, Leiterin der Forschungsgruppe „Human-Centered Computing“ an der Freien Universität Berlin.

Frau Professorin Müller-Birn, der Virologie-Professor Christian Drosten sagte Anfang April: „Eine App könnte fast das Gleiche bringen wie ein richtiger Lockdown.“ Stimmen Sie als Informatikerin dem Virologen zu?

Dr. Claudia Müller-Birn, Professorin für Human Centered Computing am Institut für Informatik der Freien Universität Berlin.

Dr. Claudia Müller-Birn, Professorin für Human Centered Computing am Institut für Informatik der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Privat

Wie Herr Drosten selbst sagt, wird dieses Zitat oft aus dem Zusammenhang gegriffen. Er hatte dem Satz vorangestellt, dass ein kritischer Anteil der deutschen Bevölkerung die App auch nutzen muss, damit sie wirksam ist, nämlich mindestens 60 Prozent. Wenn das nicht gegeben ist, ergibt die App weniger Sinn. Die Frage ist aber, ob es unter Umständen ausreicht, wenn diese Zahl regional erreicht wird und damit die Gesundheitsämter entlastet werden können. Dazu fehlt bisher die Erfahrung.

Wie kommen die 60 Prozent zustande?

Eine Studie der Universität Oxford hat dies anhand von Simulationsmodellen berechnet. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben verschiedene Beispielszenarien durchgerechnet und verglichen, welcher Nutzeranteil welche Auswirkungen auf die Infektionsrate haben wird. Erst ab einer bestimmten Anzahl von Nutzerinnen und Nutzern in der Bevölkerung lassen sich die Infektionen einschränken.

Wie funktioniert eine solche App?

Der grundlegende Ansatz der Tracing-App ist, dass Personen automatisch informiert werden, wenn sie Kontakt zu einer infizierten Person hatten – damit entfällt diese Aufgabe für das Gesundheitsamt. Ein potenzieller Kontakt wird angenommen, wenn die Smartphones dieser Personen sich eine bestimmte Zeit (ca. 15 bis 20 Minuten) in räumlicher Nähe befunden haben. Dann werden über Bluetooth Informationen (temporäre IDs) ausgetauscht und lokal gespeichert. Wenn sich jemand nachweislich infiziert hat, werden alle, die mit dieser Person Kontakt hatten, über ihr erhöhtes Infektionsrisiko informiert.

Wie genau die Benachrichtigung erfolgt und wie die Wahrscheinlichkeit einer Infektion berechnet wird (Länge der Kontaktdauer, Abstand etc.), ist bisher noch nicht geklärt. Bei der zentralen Architektur wird die Wahrscheinlichkeit auf einem Server berechnet, der auch die Informationen zu allen Kontaktpersonen erhält. Bei einer dezentralen Architektur werden keine Kontaktinformationen weitergeleitet. Die Nutzung der App soll immer freiwillig sein.

Nicht in allen Ländern wird bei der Gestaltung von Tracing-Apps so stark dem Datenschutz Rechnung getragen wie in Deutschland. Machen solche datenschutzrechtlichen Bedenken die App weniger effektiv oder besteht da kein Widerspruch?

Dieser Widerspruch wird gern herbeigeredet, und es wird häufig argumentiert: „Wenn wir jetzt zu lange diskutieren, dann verlieren wir Zeit.“ Aber hier geht es um eine grundsätzliche Frage und um einen Präzedenzfall. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen und uns mit den Vor- und Nachteilen eines jeden Ansatzes auseinandersetzen.

Derzeit wird viel über die Art der Bluetooth-Technik diskutiert, mit der die App arbeitet. Oder darüber, ob wir eine zentrale oder dezentrale Architektur verfolgen sollten. Bei einer zentralen Auswertung der erhobenen Daten steigt das Risiko, dass nicht autorisierte Personen auf die Kontaktdaten zugreifen können. Bei der dezentralen Herangehensweise besteht die Gefahr, dass eine zu ungenaue Wahrscheinlichkeitsberechnung der Kontakterkennung dazu führt, dass Personen die Tracing-App nicht mehr nutzen wollen, da sie zu häufig fälschlicherweise informiert wurden.

Die Bundesregierung hat sich nun für die dezentrale Lösung entschieden, was ich sehr begrüße. Meiner Meinung nach muss sich jetzt aber der Schwerpunkt der Debatte verschieben.

Was müsste aus Ihrer Sicht erörtert werden?

Wir müssen zur eigentlichen Frage zurückkehren: Wie können wir die App gestalten, damit die Bürgerinnen und Bürger sie sich herunterladen und nutzen wollen? Wir sollten uns daher mehr Gedanken darüber machen, wie wir die Software partizipativ gestalten können, damit die Menschen den verwendeten Ansatz verstehen und Vertrauen beim Einsatz aufbauen können. Ein Ansatzpunkt bieten hier Erklärungsmechanismen für die verwendeten Datenschutzmaßnahmen. Zudem könnte die Tracing-App Bürgerinnen und Bürgern helfen, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren.

Die App wird im Zusammenspiel zwischen Informatikerinnen, Virologen und der Politik entwickelt. Wie müssen diese Akteure zusammenarbeiten, um die Bürgerinnen und Bürger aufzuklären?

Im Bereich Human Computer Interaction würden wir in einem solchen Fall zunächst partizipative Studien durchführen, um die Bedürfnisse der Menschen besser zu verstehen und zu erfahren, was sie von dem Technologieeinsatz erwarten. Das ist nun schwierig, da die Bundesregierung die App lieber gestern als morgen einsetzen möchte. Die notwendigen Befragungen und Untersuchungen zur Tracing-App müssen nachgelagert erfolgen; an der Schließung dieser Lücke möchte ich mich mit meinen Studierenden in einem Softwareprojekt beteiligen.

Was streben Sie an?

Die Freie Universität hat das aktuelle digitale Sommersemester als Kreativsemester ausgerufen. Ich würde es gern zusätzlich zu einem Solidarsemester machen: Anstatt uns dem regulären Unterrichtsstoff zu widmen, haben wir in meinem Team überlegt, was wir in diesem Semester leisten können, um die Gesellschaft mit unserem Wissen zu unterstützen.

Der Quellcode der Tracing-App soll für jeden zugänglich sein und daher als Open-Source-Software veröffentlicht werden. Innerhalb des studentischen Softwareprojekts wollen wir uns einerseits auf die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer der App konzentrieren und Erklärungen zu den Datenschutzmaßnahmen erarbeiten. Zudem gibt es die Idee, Nutzerinnen und Nutzern zu vermitteln, wie gut sie die Abstandsregeln einhalten, damit sie das eigene Verhalten reflektieren und es eventuell anpassen können. Unser Fortschritt ist öffentlich auf Github einsehbar.

Das erhöht die Transparenz und womöglich auch die Akzeptanz der App. Nun lässt sich die Frage der Akzeptanz aber nicht sauber von der technischen Frage trennen: Nehmen wir als Beispiel eine Rentnerin, die selbst kein Smartphone hat. Als Ersatz war bereits ein Schlüsselanhänger mit Bluetooth-Funktion im Gespräch. Dieser Schlüsselanhänger kann zwar Daten sammeln und senden, aber nicht im gleichen Maße seine Besitzerin informieren, wie das eine Smartphone-App kann.

Im Bereich Human Computer Interaction sprechen wir hier von „Edge Use Cases“, also Randfällen. Auch sie sind wichtig, und wir müssen für diese Fälle Lösungen finden.

Bei der Software-Entwicklung können zwei Ansätze erfolgt werden: das sogenannte Wasserfallmodell und die agile Entwicklung. Beim Wasserfallmodell schreibt man ganz zu Beginn sehr detailliert die Anforderungen und Erwartungen auf, von denen ausgehend die App entwickelt wird. Bei der agilen Entwicklung startet man mit den wichtigsten Anforderungen; nach der Entwicklung und Veröffentlichung prüft man die Wirksamkeit der App im Nutzungskontext und verbessert sie kontinuierlich.

Ich würde mich freuen, wenn wir im Fall der Corona-Tracing-App einen agilen Ansatz verfolgen und damit mittelfristig auch die „Edge Use Cases“ berücksichtigen können.

Zumal es keine Blaupause für diese Situation gibt. Da werden wir uns agil bewegen müssen.

Wir wissen ja noch nicht mal, ob eine App überhaupt funktionieren wird. Es gibt zwar Simulationen, aber noch keine Studien.

Sollte man die Erwartungen da nicht eher drosseln, anstatt die App als Lösungsansatz zu bewerben?

Eine App allein kann nicht die Lösung sein. Eine App ist ein Baustein in einer Vielzahl von Ansätzen. Erst im politischen und gesellschaftlichen Kontext können wir herausfinden, ob sie funktioniert.

Die Fragen stellte Leon Holly

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Englische Übersetzungen: