Vor der Wahl zum EU-Parlament: Droht Europa ein weiterer Rechtsruck?
Tanja Börzel und Miriam Hartlapp haben das Abstimmungsverhalten von europaskeptischen bis europafeindlichen Abgeordneten untersucht
16.04.2024
Am 9. Juni wählen die Menschen in den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Umfragen zufolge könnten dabei rechtspopulistische und teilweise rechtsextreme Parteien erneut Gewinne verzeichnen. „Parteien wie die AfD oder die ungarische Fidesz-Partei arbeiten in den Institutionen der Europäischen Union gegen Europa“, sagt Tanja Börzel, Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. „Sie bekämpfen Europa, weil es für eine offene, liberale Gesellschaft steht.“
Einigkeit entscheidend
Ob die rechtspopulistischen Parteien einen denkbaren Zuwachs an Abgeordneten auch in konkrete Politik umsetzen können, hängt für Tanja Börzel vor allem von zwei Faktoren ab. „Einerseits kommt es darauf an, inwieweit die rechten Parteien es schaffen werden, miteinander konstruktiv zusammenzuarbeiten“, sagt sie. „Andererseits ist entscheidend, ob die bürgerlichen konservativen Parteien die von ihnen formulierte Brandmauer gegen Rechts aufrechterhalten werden.“
Die Fraktionen der Parteien schließen sich im Europäischen Parlament zu Fraktionsgruppen zusammen. So bilden etwa die bürgerlich-konservativen Parteien die Europäische Volkspartei (EVP). Mitglieder sind etwa die deutsche CDU/CSU und Les Républicains aus Frankreich.
Politisch rechts davon befinden sich die beiden europaskeptischen und rechtspopulistischen Fraktionen. Zum einen die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) – hier sitzen etwa die polnische PiS-Partei und die italienischen Fratelli d’Italia, die Partei von Ministerpräsidentin Georgia Meloni. Noch weiter rechts siedelt sich die Fraktion Identität und Demokratie (ID) an. Zu ihr gehören etwa die AfD, das französische Rassemblement National (RN) und die italienische Lega.
„Die rechtspopulistischen Parteien stehen also grundsätzlich vor dem Problem, dass sie sich in zwei verschiedene Fraktionen aufspalten“, sagt Tanja Börzel. Im Rahmen des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS) der Freien Universität untersuchte sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Miriam Hartlapp, ebenfalls Professorin am Otto-Suhr-Institut, das Abstimmungsverhalten europaskeptischer EU-Abgeordneter.
Sie fanden heraus, dass es den anti-europäischen Parteien selten gelang, im Block abzustimmen. Es gebe einige Politikfelder, in denen eine gemeinsame Linie bestehe – etwa in der Ablehnung von Migration, Klimaschutz sowie der Rechte rund um Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierung. In vielen Fragen allerdings herrsche grundlegend Uneinigkeit, sagt Tanja Börzel. Noch wird der Erfolg von Rechtspopulisten also durch eine Unfähigkeit zum länderübergreifenden Konsens beschränkt.
Abweichungen von der Fraktionslinie?
„Selbst wenn die EKR und die ID-Fraktion erfolgreich zusammenarbeiten, werden sie bei der Wahl aller Voraussicht nach keine absolute Mehrheit erreichen“, sagt Miriam Hartlapp. „Um die europäische Gesetzgebung maßgeblich zu beeinflussen, sind sie daher auf Stimmen der bürgerlichen Konservativen angewiesen.“ Bislang verständigte sich die EVP offiziell auf die Linie, keine gemeinsame Sache mit den Rechten zu machen. Doch in ihrem Forschungsprojekt sahen Tanja Börzel und Miriam Hartlapp, dass es immer wieder Abgeordnete gab, die entgegen der Fraktionslinie gemeinsam mit Rechtspopulisten stimmten.
„Hinzu kommt, dass in der Wahlkampfrhetorik der EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen die Zusammenarbeit mit rechten Parteien nicht mehr klar ausgeschlossen wird“, sagt Miriam Hartlapp. In Zukunft könnte es so im Europäischen Parlament in einzelnen Politikfeldern zu einer Blockbildung von Rechtsaußen bis in die konservative Mitte kommen. Rechtsgerichtete Allianzen könnten also auch einen nachhaltigen Einfluss auf Kernbereiche der Europäischen Union haben. „Die bürgerliche Mitte im Europäischen Parlament wird kleiner“, sagt Tanja Börzel. „Gerade deswegen ist es so wichtig, dass Parteien wie die EVP diese Mitte verteidigen und die Brandmauer nach rechts weiter halten.“