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„Wir müssen Gesprächsräume auch in konfliktreichen Situationen schaffen“

Am 25. Januar startet an der Freien Universität Berlin die Informations- und Weiterbildungsreihe „Über den Nahostkonflikt reden – Antisemitismus und Rassismus entgegentreten“ / Interview mit Vizepräsidentin Verena Blechinger-Talcott

22.01.2024

Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott ist Erste Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin.

Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott ist Erste Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Stabsstelle Diversity und Antidiskriminierung bietet im Auftrag des Präsidiums eine Informations- und Weiterbildungsreihe zum Thema Nahostkonflikt an. Die Veranstaltungen beginnen am 25. Januar 2024 und werden von externen Anbietern durchgeführt. Parallel dazu starten in dieser Woche die „Aktionswochen der Freien Universität Berlin gegen Antisemitismus“ – eine Initiative von Lehrenden verschiedener Institute, die sich an die Universitätsöffentlichkeit richtet. Professorin Verena Blechinger-Talcott, Erste Vizepräsidentin der Freien Universität, erläutert die Aktivitäten.

Frau Professorin Blechinger-Talcott, der 7. Oktober, der Terrorangriff der Hamas auf Israel, hat weltweit kontroverse Debatten ausgelöst: in der Politik, in der Gesellschaft, auch in Deutschland und auch an der Freien Universität. Wie kam das Thema Nahost auf den Campus?

An Universitäten finden sich alle gesellschaftlichen Strömungen auf die eine oder andere Weise wieder. Hinzukommt, dass die Freie Universität sehr international und sehr divers ist: Bei uns studieren, lehren, forschen und arbeiten 40.000 Menschen aus 140 Ländern. Von unseren 33.500 Studierenden kommen 13 Prozent der Bachelorstudierenden und 29 Prozent der Masterstudierenden aus dem Ausland und mehr als ein Drittel unserer Doktorand*innen.

In ihren Zuständigkeitsbereich als Erste Vizepräsidentin fallen unter anderem die Themen Diversity und Universitätskultur. Wie lässt sich die Gesprächskultur an der Universität fördern – zum Beispiel im Austausch mit jüdischen und proisraelischen Studierenden und im Austausch mit palästinensischen und propalästinensischen Studierenden? Wie lassen sich Personen, die unterschiedliche politische Meinungen vertreten, wieder in den Dialog bringen?

Das gehört zur Kernaufgabe von Universitäten: auf der Basis von wissenschaftlichen Informationen zu diskutieren und sich argumentativ auszutauschen. In der Wissenschaft zählt immer das bessere, das fundiertere, das besser hergeleitete Argument. Wir sind durch eine respektvolle und verantwortungsbewusste Dialogkultur geprägt, die im gemeinsamen Austausch nach Ideen und Lösungen sucht.

Diese Dialogkultur ist auch in konfliktträchtigen Situationen von großer Bedeutung, das heißt, wir müssen auch in solchen Situationen Gesprächsräume schaffen. Wir können als Universität keine gesellschaftlichen Probleme lösen. Aber wir können auf wissenschaftlich fundierter Expertise aufbauend zum Finden von Lösungen beitragen, wir können Vorschläge machen. Das gilt auch für die Situation in Israel und Gaza.

Für diese Austauschräume gelten allerdings Regeln: Dass man einander zuhört, dass man die Meinungen des anderen respektiert und dass man sich dann in einem gemeinsamen Diskurs und Dialog aufeinander zubewegt.

Fehlten für einen solchen Austausch in den vergangenen Wochen die Räume?

Der Konflikt in Nahost führt zu Unsicherheit und Sorge auch bei uns auf dem Campus. Das haben wir in vielen Gesprächen, die meine Präsidiumskolleg*innen und ich seit Oktober 2023 geführt haben, wahrgenommen. Unsicherheit und Sorge rufen starke Emotionen hervor. Unsere Aufgabe als Präsidium und als Wissenschaftler*innen ist es, dafür zu sorgen, dass wir wieder zu einem gemeinsamen Dialog zusammenkommen können.

Wir haben in den Gesprächen auch gehört, dass viele sich wünschen, ihr Wissen zu erweitern, auch fehlendes Wissen kann zu Unsicherheit führen. Über die Stabsstelle Diversity und Antidiskriminierung – und von den Kolleg*innen dort organisiert – bieten wir deshalb in den kommenden Wochen unter dem Titel „Über den Nahostkonflikt reden – Antisemitismus und Rassismus entgegentreten“ Workshops, Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen an. Die Veranstaltungen sind offen für alle Universitätsgruppen: für Studierende, speziell auch für Lehramtsstudierende, für Lehrende und für Beschäftigte. Wir kooperieren hier mit externen Anbietern.

Parallel dazu starten in dieser Woche die „Aktionswochen der Freien Universität gegen Antisemitismus“. Das ist eine Initiative von Lehrenden verschiedener Institute und Disziplinen, die an das Präsidium herangetreten sind: Bis Semesterende werden sich die Kolleg*innen entweder im Rahmen ihrer laufenden Lehrveranstaltungen mit dem Thema Antisemitismus beschäftigen oder unabhängig davon Formate konzipieren und Veranstaltungen anbieten.

Die aktuellen kämpferischen Auseinandersetzungen in Nahost dauern seit mehr als 100 Tagen. Warum gibt es diese Angebote erst jetzt?

Wir haben Ende Oktober, Anfang November vergangenen Jahres mit der Konzeption dieser Veranstaltungen begonnen. Es war uns wichtig, das Angebot als offenes Dialogforum zu gestalten, um beide Seiten der Diskussion behandeln zu können. Dafür waren viele Gespräche erforderlich, für die wir uns die nötige Zeit genommen haben. Die Stabsstelle Diversity ist seit Herbst im regelmäßigen Austausch mit Vertreter*innen sowohl der jüdischen Studierenden als auch der palästinensischen Studierenden.

Diese Gespräche waren sehr wertvoll, wir haben zugehört und Vorschläge für die Zusammenarbeit mit externen Anbietern aufgenommen. Diese Expert*innen sind zurzeit sehr gefragt. Wir freuen uns, dass die Veranstaltungen nun starten können.

Gibt es auch öffentliche Veranstaltungen?

Am 29. Januar werden Meron Mendel, Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, und Saba-Nur Cheema, Diplom-Politologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt, eine Public Lecture halten: „Nach dem 7. Oktober: Antisemitismus, Rassismus und die deutsche Debatte“. Auf diese Veranstaltung freue ich mich sehr. Auch einzelne Veranstaltungen der Aktionstage der Fachbereiche werden öffentlich sein.

Die Nachrichten sind erschreckend: Jüdische Menschen, die sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen. Auch jüdische Studierende der Freien Universität haben Angst, sind zum Teil Ziel von Angriffen geworden. Was kann die Universität hier tun?

Das ist etwas, was mich sehr bedrückt. Die Freie Universität ist ein offener Ort, an dem sich jüdische Studierende ohne Angst bewegen können müssen – ohne ihre Kippa oder den Davidstern ablegen zu müssen. Wir nehmen das sehr ernst und bitten alle von Antisemitismus Betroffenen und auch Personen, die antisemitische Vorfälle beobachten, sich zu melden. Eine „Vertrauensperson für von Antisemitismus Betroffene“ berät und begleitet Studierende und Mitarbeitende bereits bei Bedarf. Nachrichten erreichen die Vertrauensperson über die Stabsstelle Diversity und Antidiskriminierung.

Die Freie Universität nimmt ihre Verantwortung als nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Shoah gegründete Hochschule sehr ernst. Das Bekenntnis zur Freiheit leitet uns: Wir treten klar gegen Ausgrenzung, Antisemitismus und Rassismus an der Freien Universität ein.

Auch muslimische und palästinensische Menschen erleben Diskriminierung, Studierende, die für die palästinensische Seite eingetreten sind, fühlten sich nicht gesehen. An wen können sie sich wenden?

Auch das ist ein ernsthaftes Problem: Viele palästinensische, arabische oder als muslimisch gelesene Personen haben berichtet, dass sie an der Freien Universität oder auch auf dem Weg zur Universität Diskriminierung erfahren haben, dass sie angesprochen, zum Teil auch bedroht worden sind.

Auch hier ist die Stabsstelle Diversity die Anlaufstelle für Sorgen und Nachrichten, sie bietet Beratung an für alle von Diskriminierung Betroffenen, für alle Mitglieder der Universität.

Unterstützung bieten auch die support.points auf dem Campus …

… ja, diese Beratungsstellen, bei denen Psycholog*innen leicht zugänglich Hilfe anbieten, haben wir Ende 2022 auf dem gesamten Campus eingerichtet, inzwischen gibt es neun support.points. Die Türen dort stehen immer offen. Jetzt natürlich auch für Menschen, die vom Nahostkonflikt betroffen sind, aber auch für Menschen, die sich in der aktuellen Situation überfordert fühlen.

Es geht in der aktuellen Debatte auch immer darum, was sagbar ist – in der Öffentlichkeit. Aber auch in der Wissenschaft und an Universitäten. Was ist sagbar?

Als Wissenschaftler*innen in Deutschland unterliegen wir der im Grundgesetz verankerten Wissenschaftsfreiheit. Das ist ein hoher Wert, dem wir sehr große Bedeutung beimessen. Wir bewegen uns bei unserer Arbeit selbstverständlich im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Wir tauschen uns auf der Basis von Informationen und über Argumente aus, Grundlage ist, dass wir einander zuhören, einander respektieren.

Ich finde es schwierig, wenn über die Medien oder aus der Politik Rede- und Denkverbote ausgesprochen werden. Universitäten sind auch politische Orte. Aber die politische Auseinandersetzung findet dort in einem bestimmten Kontext statt, nämlich an einer wissenschaftlich, an Forschung und Lehre orientierten Einrichtung.

Was erwarten Sie von den Veranstaltungen, die in den kommenden Wochen an der Freien Universität zum Thema Nahost und zum Schwerpunkt Antisemitismus angeboten werden? Was erhoffen Sie sich persönlich?

Dass wir wieder stärker in Dialog treten können, dass wir die Debattenkultur, die zur Freien Universität gehört, beleben. Dass wir einen Ort bieten, an dem Studierende, Lehrende, Mitarbeitende in einen offenen und freien Austausch treten können. Ein respektvoller, fairer und wertschätzender Umgang miteinander gehört für mich zum Selbstverständnis, aber auch zur Selbstverpflichtung unserer Universität wie auch all ihrer Mitglieder. Und er ist die Grundlage für eine vertrauensvolle Lehr-, Lern- und Arbeitsumgebung. Wir müssen sicherstellen, dass alle in ihrer Lebensrealität abgeholt werden. Nur so ist ein sicherer und angstfreier Campus für alle möglich.

Insbesondere meinen Kolleg*innen an der Freien Universität, deren Forschungsschwerpunkt die Region Nahost und Mittlerer Osten berührt – etwa in der Islamwissenschaft, Judaistik, Arabistik – wünsche ich, dass sie die seit Jahrzehnten gute Zusammenarbeit in Forschung und Lehre wie bisher und auch über die Institutsgrenzen hinweg fortführen können. Dass sie sich weiterhin in von gegenseitigem Respekt geprägten Diskussionen, ohne Ansehen der Herkunft, fachlichen Fragen widmen können. Davon profitieren alle, nicht zuletzt die Studierenden.

Die Fragen stellte Christine Boldt

Weitere Informationen

„Intersektionalität und Antisemitismus – Kritik und neue Perspektiven“

Vortrag von Prof. Dr. Karin Stögner, Professorin für Soziologie an der Universität Passau, Moderation: Prof. Dr. Gülay Çağlar – Freie Universität Berlin (Öffentliche Veranstaltung im Rahmen der Aktionswochen der Freien Universität Berlin gegen Antisemitismus)

Angesichts der aktuellen Ereignisse stellen sich Fragen nach dem Zusammenhang von Misogynie und Antisemitismus in erneuter Vehemenz. Gerade in intersektional-feministischen Debatten wird jedoch dieser Zusammenhang weitgehend ausgeblendet.

Der Vortrag wendet sich dieser intersektionalen Leerstelle zu und problematisiert, dass Israelis und Juden:Jüdinnen aus intersektionaler globaler Solidarität häufig ausgeschlossen werden. In einem Neuentwurf intersektionaler Ideologiekritik werden demgegenüber die gegenseitigen Verstrickungen von Antisemitismus, Rassismus und Sexismus zum Thema gemacht.

Zeit und Ort

  • Freitag, 26.01.2024, 10.00 s.t. - 12.00
  • Genaue Angaben zum Raum folgen nach der Anmeldung