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„Wir als Lehrkräfte müssen Vorbilder darin sein, wie man Kollegialität und Respekt zeigt, auch wenn man anderer Meinung ist“

Über den Nahostkonflikt reden: ein Interview mit der Judaistikprofessorin Susannah Heschel vom Dartmouth College, USA

29.01.2024

Arbeitet als Judaistin eng mit ihren Kolleg*innen der Middle Eastern Studies des Dartmouth College zusammen: Professor Susannah Heschel.

Arbeitet als Judaistin eng mit ihren Kolleg*innen der Middle Eastern Studies des Dartmouth College zusammen: Professor Susannah Heschel.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Susannah Heschel, Professorin für Judaistik am Dartmouth College (New Hampshire, USA) war im Dezember mit einer Studierendengruppe an der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Veronika Fuechtner, Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft in Dartmouth, unterrichtete sie das dreiwöchige Programm „Migration and Memory“. Die Kurseinheit beschäftigt sich mit Erinnerungskultur und jüdischem intellektuellem Leben in Berlin in der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Freie Universität Berlin und das Dartmouth College kooperieren seit vielen Jahren im Rahmen eines Direktaustauschprogramms.

Kooperation von Freier Universität Berlin und Dartmouth College
Seit 2006 unterhält die Freie Universität Berlin ein allgemeines Memorandum of Understanding mit dem Dartmouth College, der kleinsten der acht Ivy-League-Universitäten. Seit 2019 gibt es ein Kooperationsabkommen: Das Dartmouth College hat ein Büro im International House; bis zu drei Mal pro Jahr führen Lehrende des Colleges ein unterschiedlich langes eigenes Studienprogramm für Dartmouth-Studierende an der Freien Universität durch. Für die Dauer des Studienprogramms sind die Studierenden an der Freien Universität immatrikuliert, können Bibliotheken und Mensen nutzen und sind in das universitäre Leben eingebunden.
Im Gegenzug schickt die Freie Universität Berlin eine*n Studierende*n pro Jahr in das Master-Programm „Comparative Literature“ am Dartmouth College – mit Vollstipendium und der Option, einen Master-Abschluss innerhalb des Dartmouth-Programms zu erlangen.

Ausgangspunkt für das Gespräch mit Susannah Heschel waren die Auseinandersetzungen an amerikanischen Universitäten nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Während es an anderen Ivy-League-Universitäten wie Harvard zu heftigen Konflikten über die Bewertung des Hamas-Angriffs ebenso wie Israels Reaktion kam, war das in Dartmouth nicht so. Susannah Heschel sieht den Grund auch in der seit mehr als 20 Jahre langen engen Zusammenarbeit der Kolleg*innen der Jewish Studies und der Middle Eastern Studies in Dartmouth.

Frau Professorin Heschel, wie haben Sie und Ihre Kolleg*innen in Dartmouth auf die Ereignisse vom 7. Oktober reagiert?

Als ich am 7. Oktober die Nachrichten hörte, war ich am Boden zerstört und voller Wut. Am selben Tag rief mich mein Dartmouth-Kollege Tarek El-Ariss an, der den Lehrstuhl für Nahoststudien innehat und ein guter Freund von mir ist. Er war gerade auf einer Alumni-Reise in Kairo und klang genauso erschüttert wie ich. Ich sagte ihm, dass ich darüber nachdachte, ein Meeting der Lehrkräfte unserer Fakultät einzuberufen, um das Geschehen zu besprechen. Er sagte: Besorgt euch einen größeren Raum, macht ihn auf und lasst die Studierenden kommen.

Also organisierten wir in der Woche nach dem 7. Oktober zwei öffentliche Versammlungen, bei denen ich drei meiner Kollegen bat, sich kurz zu äußern, und wir dann Fragen von Studierenden entgegennahmen. Diese Versammlungen waren frei zugänglich, wir hatten mehrere hundert Menschen im Saal und bei der zweiten Versammlung sogar mehr als tausend im Livestream. Was wichtig ist: Sowohl unser Dekan als auch der Präsident der Universität wollten, dass sich die Lehrkräfte engagieren und so etwas organisieren, ich glaube, das gab es auch nicht an vielen Universitäten.

Worum ging es da? Darum, zu verarbeiten, was passiert ist?

In erster Linie war es natürlich ein Ort, an dem die Studierenden Fragen stellen und Studierende und Lehrkräfte ihre Gefühle ausdrücken konnten. Dann war es ein Ort, an dem man Fragen stellen konnte, wissenschaftlich akademische Fragen, um zu verstehen, was da eigentlich passiert ist. Bei dem akademischen Aspekt ging es nicht nur um den Inhalt, sondern vielmehr um einen akademischen Stil des Sprechens, um den Umgang mit so etwas.

Das war das Wichtigste. Wir waren nicht da, um den Leuten einen Vortrag über die Geschichte des Nahen Ostens zu halten. Dazu bieten wir Kurse an. Sondern wir wollten zeigen, wie man sich als Akademiker in einem solchen Moment verhält. Wie verhält man sich gegenüber seinen Kolleginnen und Studierenden? Wird man wütend und schreit und wird ausfällig, wie es einige Dozenten an anderen Universitäten getan haben? Sie haben vielleicht darüber gelesen.

Ja.

Natürlich waren und sind wir aufgewühlt. Auf dem Podium saßen neben mir ein ehemaliger ägyptischer Diplomat, ein Wissenschaftler für marokkanische und ägyptische Literatur und ein israelischer Journalist. Wir alle sind in Israel gewesen und geben Seminare, die mit dem Konflikt zu tun haben: Wir sind mit der Region aufs Engste verbunden, aber wir haben versucht, eine Atmosphäre der Professionalität und Würde zu schaffen. Sie werden gelesen haben, wie unprofessionell sich einige Professor*innen an amerikanischen Universitäten verhalten haben; einige von ihnen feierten den Anschlag vom 7. Oktober, ein Professor in Cornell sagte etwa, er sei davon „begeistert“ gewesen.

Wie ging es mit Ihrem Format weiter? Einige Studierende in Dartmouth haben eine Mahnwache organisiert, hat das zu Konflikten geführt?

Ich denke, unser Format hat sich bewährt. Natürlich gibt es bei uns auch sehr linke und sehr rechte Studierende, aber in Dartmouth überwiegt die politische Mitte. Jüdische Studierende haben eine Gedenkveranstaltung abgehalten, palästinensische Studierende eine Mahnwache, Studierende aus beiden Gruppen haben miteinander gesprochen. Zwei Studenten bekamen Ärger, aber nur, weil sie ein Protestzelt auf dem Dartmouth Green aufgestellt hatten, was nicht erlaubt ist.

Mir scheint, dass viele der Konflikte an anderen Universitäten – Harvard ist ein gutes Beispiel – ihren Ursprung in Statements haben, die entweder die Universität oder bestimmte Gruppen oder Organisationen auf dem Campus abgegeben haben: Statements, Verurteilungen, die dann zu Gegendarstellungen führten und so weiter?

Ja, es gab eine Menge Diskussionen über verschiedene Universitätspräsidenten der USA und die von ihnen abgegebenen Statements, aber ich denke, dass das im Grunde eine Verdrängung oder eine Verschiebung des emotionalen Impacts der Anschläge war. Die Menschen waren extrem aufgewühlt, sie wussten nicht, was sie mit ihren Gefühlen anfangen sollten, also fingen sie an, sich über diese Statements zu streiten. Ich persönlich halte nichts von solchen offiziellen Stellungnahmen, sie sind nicht das, was wir wirklich brauchen, man liest sie und kann sich fünf Minuten später nicht mehr daran erinnern, was darin gesagt wurde.

Ich denke, was wir auf den Campussen unserer Universitäten brauchen, ist, dass wir als Lehrkörper und Studenten respektvoll zusammenkommen. Die Erwachsenen im Raum, sprich: die Lehrkräfte, müssen Vorbilder darin sein, wie man sich verhält, wie man miteinander spricht, wie man Kollegialität und Respekt zeigt, auch wenn man anderer Meinung ist. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Gefühle unterdrücken: Aber meine eigene Erschütterung habe ich mit meiner Familie und meinen Freunden geteilt, ich muss meine Gefühle nicht in einem öffentlichen Forum herausschreien.

Worum ging es in Ihrem Forum konkret?

Zunächst einmal haben wir betont, dass das, was geschehen ist und weiter geschieht, ein Horror ist, den man nicht auf ein einfaches Narrativ reduzieren kann. Wir können über den Nahen Osten nicht so diskutieren als ginge es um ein Kinderbuch: Wer sind die Guten? Wer ist der Böse? Dafür ist die Sache zu kompliziert.

Beide Seiten, die Palästinenser und die Israelis, haben schreckliche Dinge getan, beide Seiten haben auch wunderbare Dinge vollbracht. Beide Seiten sind Opfer und Täter zugleich. Aber selbst wenn jemand ein Täter, ein Unterdrücker ist, bedeutet das nicht, dass er aufhört, ein Mensch zu sein. Will sagen: Selbst dann kann man jemanden nicht auf eine ideologische Formel oder eine politische Identität reduzieren.

Als die Schüler fragten: „Ist Israel ein Apartheidstaat? Ja oder nein?“ haben wir mit ihnen eine Diskussion begonnen. Apartheid ist kein Slogan, sondern ein Straftatbestand des humanitären Völkerrechts. Was ist die internationale rechtliche Definition von Apartheid? Kann sie auf Israel angewendet werden? Auf das Westjordanland oder den Gazastreifen? Und so weiter...

Aber die wichtigere Frage, die wir den Studierenden stellten, war: Warum stellst du diese Frage? Willst du verstehen oder suchst du einen Slogan für ein Plakat? Wir luden sie auch ein, sich eine Zukunft für Israelis und Palästinenser vorzustellen, aber ohne magisches Denken: Ohne sich Israel oder die Menschen in Gaza wegzuwünschen, denn beides wird nicht passieren.

Ich habe den Eindruck, dass angesichts des Ausmaßes des anhaltenden Schreckens sowohl des Hamas-Angriffs als auch des israelischen Krieges gegen die Hamas viele Menschen das Gefühl haben, sie müssten auch rhetorisch eskalieren, um mit dem Horror mithalten zu können. Dann fühlt man sich auch ermächtigt, den normalen Betrieb einer Universität zu stören, Hörsäle zu besetzen, Plakate in Bibliotheken aufzuhängen...

Ich würde sagen, wenn jemand so aufgebracht ist, respektiere ich das, aber dann sollte er oder sie den Campus verlassen und das tun, was er oder sie in Washington, im Nahen Osten, bei einem Therapeuten oder wo auch immer tun muss. Denn die freie Meinungsäußerung sollte nicht die Möglichkeit anderer Menschen einschränken, sich zu äußern. Freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, dass man andere am Sprechen hindern kann. Und freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, dass man andere daran hindern sollte, ihr Studium fortzusetzen.

Die Fragen stellte Pepe Egger

Weitere Informationen

Zur Person
Susannah Heschels Forschungsschwerpunkt ist das jüdische und protestantische Denken im 19. und 20. Jahrhundert, einschließlich der Geschichte der Bibelwissenschaft, der jüdischen Islamwissenschaft und der Geschichte des Antisemitismus. Zu ihren Veröffentlichungen gehören „Abraham Geiger and the Jewish Jesus“ (University of Chicago Press), „The Aryan Jesus: Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany“ (Princeton University Press) und „Jüdischer Islam: Islam und Deutsch-Jüdische Selbstbestimmung“ (Matthes und Seitz). Von 2011 bis 2012 war sie Stipendiatin am Wissenschaftskolleg in Berlin. Derzeit ist sie Guggenheim-Stipendiatin und schreibt an einem Buch über die Geschichte der europäisch-jüdischen Islamwissenschaft.
Das Dartmouth College
Aktuell sind am Dartmouth College (New Hampshire, USA) rund 6700 Studierende eingeschrieben (Undergraduates und Graduates). Ihnen stehen rund 930 wissenschaftliche Mitarbeitende/Dozierende gegenüber.