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Per App im Kontakt mit dir selbst

Ein Gründungs-Team der Freien Universität hilft Kindern mit psychischen Auffälligkeiten, ihr Wohlbefinden durch Achtsamkeits- und Meditationstraining zu verbessern

29.01.2020

Das Aumio-Team (v.l.n.r. oben): Tilman Wiewinner, Felix Noller, Jean Ochel, Steffen Scherf; (unten) Florian Gerhardt, Teresa Weicken, Simon Senkl

Das Aumio-Team (v.l.n.r. oben): Tilman Wiewinner, Felix Noller, Jean Ochel, Steffen Scherf; (unten) Florian Gerhardt, Teresa Weicken, Simon Senkl
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wie können Kinder, die etwa an einer sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – kurz: ADHS – leiden, ihre Lebensqualität verbessern? Ein Gründungsteam der Freien Universität setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe: Die App Aumio klärt auf und lehrt Achtsamkeits- und Meditationstechniken. Seit Beginn des Jahres erhält das Start-up ein EXIST-Gründerstipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und wird von der Gründungsförderung der Freien Universität Berlin betreut. Es arbeitet von einem Büro der Start-up Villa der Freien Universität in der Dahlemer Altensteinstraße 40 aus. Mentorin des Teams ist Christine Knaevelsrud, Professorin für klinisch-psychologische Intervention an der Freien Universität Berlin. Ein Gespräch mit zwei der insgesamt vier Gründer, Jean Ochel und Felix Noller.

Herr Ochel, Herr Noller, wie kamen Sie auf die Idee für ihr Start-up?

Jean Ochel: Ich bin selbst mit Symptomen eines Aufmerksamkeitsdefizits (ADHS) großgeworden und habe erfahren, wie schwierig es ist, ein impulsives Kind zu sein. Auch während meines Psychologie-Studiums hatte ich mit Aufmerksamkeitsproblemen zu kämpfen. Also habe ich mir die wissenschaftliche Literatur über die Effekte von Achtsamkeitstherapie und Meditation angesehen und festgestellt, dass diese Methoden mit ihrer neuronalen Wirkweise gut zur Behandlung von ADHS-Patienten eingesetzt werden könnten. Meditation hat mir persönlich dann tatsächlich geholfen. In meiner Masterarbeit habe ich untersucht, ob die Methode auch Kindern und Familien helfen kann. Diese ersten Studien haben gezeigt, dass es funktioniert: Mehr als 40 Kinder haben einen Protoyp der App genutzt und die Mehrheit der Eltern hat hinterher eine Minderung der Symptome Impulsivität und Hyperaktivität wahrgenommen. Da lag es nahe, das Training einem größeren Kreis von Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung zu stellen.

Felix Noller: Im Rahmen seiner Masterarbeit hat Jean schon mit Steffen Scherf zusammengearbeitet; er entwickelt Apps. Später kamen Tilmann Wiewinner für Management und Marketing und ich als Designer dazu. Wir haben ein Berliner-Startup-Stipendium an der Freien Universität erhalten und unseren Prototyp weiterentwickelt. Dank des EXIST-Stipendiums können wir nun die Markteinführung vorbereiten.

Der UX-Designer Felix Nöller und der Psychologe Jean Ochel gehören zum Gründungsteam von Aumio.

Der UX-Designer Felix Nöller und der Psychologe Jean Ochel gehören zum Gründungsteam von Aumio.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wie funktioniert die Aumio-App?

Jean Ochel: Wir bieten verschiedene Kursmodule an: Einige Kinder kämpfen mit Wutausbrüchen, andere mit Unaufmerksamkeit, wieder andere sind sehr ängstlich. Wir erzählen kindgerecht, woher etwa die Angst kommt und vermitteln Fähigkeiten, mit ihr umzugehen. Bei der Meditation geht es um die Konzentration auf den Atem oder darauf, wie die Füße beim Gehen den Boden berühren. Das hilft impulsiven Kindern, denen oftmals die Verbindung zu sich selbst fehlt: Sie merken nicht, wie sich Stress und Unwohlsein in ihrem Inneren anstauen, und explodieren dann gewissermaßen irgendwann.

Bei ADHS ist die sogenannte Reizoffenheit ein großes Thema: Die Aufmerksamkeit springt ständig von einem Reiz zum nächsten. Durch Meditation lernt man, sich zu fokussieren, also gedanklich immer wieder zu einem bestimmten Punkt zurückzukehren. Dafür gibt es auch eine neuronale Grundlage: Die Gehirnareale, die bei ADHS defizitär sind, können durch Meditation trainiert werden.

Felix Noller: Die App ist als „Reise durch den inneren Kosmos“ gestaltet: Wie auf einer Weltraumexpedition sollen die Nutzerinnen und Nutzer jeden Tag eine Mission erfüllen, zum Beispiel etwas über Konzentration lernen oder eine Atemübung machen. Dafür erhalten sie Sterne und Abzeichen. Das soll aber keinen Nervenkitzel erzeugen, sondern die Kinder vielmehr entspannen. Bei der Konzeption und den Inhalten der App lassen wir uns unter anderem von einer Kinderbuchautorin beraten. Außerdem sind auch Kinder, deren Familien sowie Therapeutinnen und Therapeuten an der Entwicklung beteiligt.

Woran merkt man, dass ein Kind diese Übungen braucht?

Jean Ochel: Wir haben mit vielen Eltern und Kindern gesprochen und erlebt, dass einige sehr verzweifelt sind. Die Kinder leiden ja unter ihren Wutausbrüchen, schließlich müssen sie die Konsequenzen tragen – sie schämen sich danach oder haben Gewissensbisse. Wenn eine Familie oder ein Kind selbst etwas ändern möchte, kann unsere App helfen. Denn nur eines von fünf Kindern, die in Deutschland unter psychischen Problemen leiden, erhält professionelle Hilfe. Das hat der Kinder- und Jugendreport der Deutschen Angestellten-Krankenkasse erst kürzlich bestätigt.

Felix Noller: Viele Eltern handeln spät, weil psychische Probleme oftmals noch stigmatisiert sind. Und selbst wenn sie Hilfe suchen, müssen sie lange auf eine Therapie warten, weil es zu wenig Therapeuten gibt. Die Aumio-App bietet Unterstützung für Zuhause – vor, während und nach einer Therapie. Die Familien werden die App zunächst selbst bezahlen müssen, aber wir sind bereits mit Krankenkassen im Gespräch über eine mögliche Kostenübernahme.

Die Fragen stellte Marion Kuka.

Weitere Informationen

Die Aumio-App soll im Frühjahr 2020 auf den Markt kommen. Das Team strebt eine Zertifizierung als Medizinprodukt an und plant weitere Wirksamkeitsstudien; es kooperiert dabei eng mit Christine Knaevelsrud, Professorin und Leiterin des Arbeitsbereichs Klinisch-Psychologische Intervention der Freien Universität. Betreut wird Aumio von Profund Innovation, der Service-Einrichtung für die Förderung von Unternehmensgründungen und Innovationen in der Abteilung Forschung der Freien Universität. Sechs Monate lang wurde das Team außerdem vom „SpinLab-The HHL Accelerator“ in Leipzig unterstützt.