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„Smartphones sollten unser Leben verbessern, nicht davon ablenken“

Die Ausgründung „not less but better“ der Freien Universität hat ein wissenschaftlich fundiertes Training zur gesünderen Smartphone-Nutzung entwickelt

27.05.2020

Blick in die App: In 20 Übungen lernen Nutzerinnen und Nutzer den bewussten Umgang mit dem Smartphone.

Blick in die App: In 20 Übungen lernen Nutzerinnen und Nutzer den bewussten Umgang mit dem Smartphone.
Bildquelle: not less but better

Psychologin Christina Roitzheim, Marketingexperte Selcuk Aciner und Informatiker Marius Rackwitz haben persönlich Erfahrungen mit problematischer Smartphone-Nutzung gemacht: Christina wurde im durchdigitalsierten chinesischen Alltag förmlich ins Digitale gezogen, und Selcuk und Marius erlebten, wie leicht es ist, sich mit dem Smartphone von anstehenden Aufgaben im Arbeitsleben abzulenken. Die drei haben deshalb entschieden, das Problem gemeinsam zu lösen – nicht nur für sich selbst, sondern prinzipiell. Ihre Idee: eine mentale Trainings-App, mit der man gesunde Smartphone-Nutzung einüben kann. 

Christina Roitzheim hat Psychologie in Berlin, Kalifornien und Schanghai studiert sowie Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. Sie hat als Design-Thinking-Beraterin und Trainerin für multinationale Konzerne und Start-ups gearbeitet.

Christina Roitzheim hat Psychologie in Berlin, Kalifornien und Schanghai studiert sowie Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. Sie hat als Design-Thinking-Beraterin und Trainerin für multinationale Konzerne und Start-ups gearbeitet.
Bildquelle: privat

Es klingt zunächst paradox, ausgerechnet per App erlernen zu sollen, wie man das Smartphone gesünder einsetzt. Für Christina Roitzheim ist es das aber keineswegs, das Smartphone sei vielmehr die ideale Umgebung: „Schwimmen lernen wir ja auch im Wasser“, sagt die EXIST-Stipendiatin.  

Wir greifen zum Smartphone, um zu vermeiden

Smartphones sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken und machen es in vielen Aspekten einfacher. Wann aber ist die Nutzung problematisch? „Es ist schwer, ein objektives Maß zu bestimmen,“ erklärt Selcuk Aciner. Ausschlaggebend sei dabei die eigene Wahrnehmung. „Wir greifen oft zum Smartphone, um unangenehmen Gedanken oder Gefühlen auszuweichen“, weiß Christina Roitzheim. In der Psychologie spreche man von experiential avoidance – Erfahrungsvermeidung: Man flüchtet ins Smartphone, um einer Herausforderung auszuweichen, wie etwa der Interaktion mit Fremden oder herausfordernden Aufgaben bei der Arbeit.

Selcuk Aciner hat BWL an der Universität Erlangen-Nürnberg studiert und noch während des Studiums das Start-up Happy-Strappy gegründet..

Selcuk Aciner hat BWL an der Universität Erlangen-Nürnberg studiert und noch während des Studiums das Start-up Happy-Strappy gegründet..
Bildquelle: privat

Ein nicht zu unterschätzender Aspekt sei die neuronale Biologie des Menschen und das darauf ausgerichtete Design vieler Apps, erklärt Marius Rackwitz: Jede Benachrichtigung oder jeder „Like“ führt zur Dopaminausschüttung bei den Nutzerinnen und Nutzern, dadurch steigt das Wohlbefinden. „Dieser Prozess ist zentral beim Aufbau von Motivation und soll eigentlich gutes Verhalten belohnen und damit dessen Wiederholung fördern,“ sagt Christina Roitzheim. „Designer nutzen diese sogenannten neuronalen Feedbackloops ganz bewusst“, sagt Marius Rackwitz.

Viele Apps seien derart gestaltet, dass möglichst viel Zeit auf ihnen verbracht würde: endlose Feeds, immer neuer Content, der Reize setzt und zur Ausschüttung von Dopamin führt. Für das aktuelle Geschäftsmodell der Plattformen ist das notwendig – aber es sei nicht unbedingt im Interesse der Nutzenden.

Psychologie trifft Achtsamkeit

„Und genau hier setzen wir an“, sagt Selcuk Aciner. „Unsere App bietet ein 20-tägiges Trainingsprogramm, durch das man digitale Resilienz erlernt, also widerstandsfähig gegenüber Ablenkungen wird.“

Das Team betont, dass es nicht darum gehe, das Smartphone zu dämonisieren – auch scheinbar sinnfreies Daddeln habe seine Berechtigung, solange man selbst bestimme, wie lange man es tun möchte und nicht Facebook und Co. „Smartphones sollen unser Leben verbessern und nicht davon ablenken,“ ist sich das Team von not less but better einig.

Marius Rackwitz hat Informatik studiert und arbeitet als Programmierer für das Start-up redpeppix GmbH sowie bei Realm Inc. und Keepsafe Europe. Außerdem ist er als Berater für zahlreiche Technologie-Start-ups tätig.

Marius Rackwitz hat Informatik studiert und arbeitet als Programmierer für das Start-up redpeppix GmbH sowie bei Realm Inc. und Keepsafe Europe. Außerdem ist er als Berater für zahlreiche Technologie-Start-ups tätig.
Bildquelle: privat

Die App wurde deshalb als geschlossenes System designt: „Nutzerinnen und Nutzer können sich nicht darin verlieren“, erklärt Marius Rackwitz. Außerdem kann in der aktuellen Variante pro Tag nur eine Übung absolviert werden. Sie dauert zwischen fünf und zehn Minuten, ist interaktiv und entweder im Audio- oder Texformat gestaltet. „Das eigentliche Lernen findet dann außerhalb der App statt“, erklärt der Informatiker. Denn am Ende jeder Übung erhält die Nutzerin oder der Nutzer eine Aufgabe, um das Erlernte im Alltag anzuwenden. 

not less but better kombiniert damit Ansätze aus der Verhaltenspsychologie – die sich in anderen Bereichen, etwa der Rauchentwöhnung bereits bewährt haben – mit Mikroübungen, die gewährleisten, dass die Lerneinheiten problemlos in den Alltag passen. 

Ein wissenschaftlich fundiertes Konzept

Zu Beginn gehe es darum, Selbstbeobachtung zu üben und die eigenen Werte besser kennenzulernen. Auf Basis dieser Aspekte werde dann das persönliche Nutzungsverhalten definiert. So besteht eine der ersten Übungen darin, die eigenen Impulse zu betrachten. Was passiert, wenn ich eine WhatsApp-Nachricht erhalte und mein Handy pingt oder das Display leuchtet? In welchen Situationen greife ich zum Smartphone und scrolle durch den Instagram- oder TikTok Feed? Ziel sei es, ein Gefühl für sich selbst zu bekommen, den Impuls wahrzunehmen und irgendwann besser entscheiden zu können, ob man dem nachgegeben möchte oder nicht. 

„Uns war dabei wichtig, nicht die x-te psychologische App zu sein, die ohne wirkliche Grundlage ein besseres Leben verspricht, sondern ein Training auf wissenschaftlicher Basis zu entwickeln“, sagt Selcuk Aciner. Nachdem die drei das Training konzipiert hatten, haben sie gemeinsam mit dem promovierten Gesundheitspsychologen Jan Keller und Professor Ralf Schwarzer vom Arbeitsbereich Gesundheitspsychologie der Freien Universität eine Studie mit 232 Teilnehmenden durchgeführt, um dessen Wirksamkeit zu überprüfen.

„Wir bereiten gerade die Publikation vor,“ erklärt Christina Roitzheim. „Es lässt sich aber schon sagen, dass das Trainingsprogramm bei der Reduktion von problematischer Smartphone-Nutzung erfolgreich ist – außerdem das Wohlbefinden steigert und generell dabei hilft, schlechte Handy-Gewohnheiten abzubauen.“ Das habe eine Befragung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach drei Wochen gezeigt. Dass der App-Effekt auch langfristig wirken möge, darauf bauen die drei Entwickler. 

Weitere Informationen

Die Ausgründung not less bust better wurde 2018 mit einem Berliner-Startup-Stipendium gefördert. Nun hat das Team ein EXIST-Gründerstipendium erhalten und bereitet seit Anfang Mai die Testphase der Beta-Version der App und den anschließenden Markteintritt vor. Die Beta-Version kann voraussichtlich von August 2020 an getestet werden: Interessierte können sich in die Warteliste auf der Website eintragen und werden informiert, sobald die Beta-Version verfügbar ist.

Wissenschaftliche Mentoren von not less but better sind Dr. Jan Keller und Prof. Dr. Ralf Schwarzer von der Freien Universität Berlin. Unterstützt werden die Gründerinnen und Gründer außerdem von Profund Innovation, der Service-Einrichtung für die Förderung von Unternehmensgründungen und Innovationen der Abteilung Forschung der Freien Universität.

Mit dem EXIST-Gründungsstipendium unterstützt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Studierende, Absolventinnen und Absolventen dabei, einen Businessplan zu erstellen und marktfähige Produkte zu entwickeln. Im Fokus stehen innovative technologieorientierte oder wissensbasierte Projekte mit guten wirtschaftlichen Erfolgsaussichten. Die Förderung erfolgt in Stipendien zur Sicherung des Lebensunterhaltes sowie über Sach- und Coachingmittel für Gründerinnen und Gründer an Hochschulen und Forschungseinrichtungen für eine Dauer von bis zu zwölf Monaten.