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„Es gibt kein Fürsorge-Gen“

Medizinanthropologin Johanna Fröhlich Zapata über Alltagsfeminismus und eine „Equal Care App“

18.02.2021

Ein Team: Bei der „Equal Care Day“-Konferenz 2020 stellten Johanna Fröhlich Zapata und Florian Ruland ihre App-Idee vor.

Ein Team: Bei der „Equal Care Day“-Konferenz 2020 stellten Johanna Fröhlich Zapata und Florian Ruland ihre App-Idee vor.
Bildquelle: Equal Care Day

Wie gendergerecht ist Fürsorgearbeit im Jahr 2021 verteilt? Johanna Fröhlich Zapata, Medizinanthropologin und Therapeutin, entwickelt dazu in der Startup-Villa der Freien Universität die „Equal Care App“, gemeinsam mit dem Verhaltensbiologen Florian Ruland aus der Arbeitsgemeinschaft „Ecological Novelty“ am Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie. Mit der App sollen Nutzerinnen und Nutzer bald messen und überprüfen können, wieviel unbezahlte Fürsorge-Aufgaben in ihrer Partnerschaft geleistet werden und von wem. Ein campus.leben-Interview über Feminismus im Alltag und eine Unternehmensgründung, die Erkenntnisse aus den Gender Studies, der Biologie, der Anthropologie und der Gestalttherapie in die Praxis übersetzen will.

Frau Fröhlich Zapata, was ist Alltagsfeminismus? 

Die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen auf professioneller und persönlicher Ebene ist eine Herausforderung. Möglich ist das nur, wenn auch die unbezahlte Arbeit, also alles, was unter Fürsorge fällt und heute auch Care-Arbeit und Mental Load genannt wird, mitgedacht wird: der Einsatz in Familie, Haushalt und Ehrenamt. 

Dieser Einsatz sollte von allen gemeinsam wahrgenommen werden, nicht nur von Frauen und Müttern. Für die größere Wertschätzung von Fürsorgearbeit brauchen wir politische Veränderungen, etwa einen Übergang vom Ehegattensplitting zu einer Individualbesteuerung und Maßnahmen gegen die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern.

Aber Care-Arbeit muss auch auf ganz privater Ebene Anerkennung finden und neu gedacht werden: Hier setzt Alltagsfeminismus an. Es gibt kein Fürsorge-Gen. Mutterliebe und Empathie sind Mädchen nicht angeboren.

Diese vereinfachte Zuschreibung („sich um andere zu sorgen, liegt im weiblichen Wesen”) und Biologisierung („Mutter-Instinkt”) hat zur Folge, dass bestimmte Aufgaben geschlechtsspezifisch verteilt werden, als wäre das „natürlich”. Frauen, die diese Rollenverteilung aus ihrer Elterngeneration, der Öffentlichkeit oder Werbung nicht anders kennen, reproduzieren sie oft sogar unbewusst. Bei Alltagsfeminismus geht es ums Innehalten, Beobachten der eigenen Automatismen und darum, wirklich einen feministischen Alltag zu leben – auch, wenn niemand schaut. 

„Alltagsfeminismus®“ ist darüber hinaus ein feministisches Coachingprogramm, das ich vor drei Jahren ins Leben gerufen habe. Mit Mitteln der Gestalttherapie, einer Form der Psychotherapie, unterstütze ich Frauen darin, aus tradierten Denk- und Handlungsmustern auszubrechen.

Johanna Fröhlich Zapata ist Medizinanthropologin an der Universität von Granada und Heilpraktikerin für Psychotherapie.

Johanna Fröhlich Zapata ist Medizinanthropologin an der Universität von Granada und Heilpraktikerin für Psychotherapie.
Bildquelle: Elias Danner

Wie sind Sie auf die Problematik aufmerksam geworden?

Ich beschäftige mich schon lange mit dem Zusammenhang von Geschlecht und Gesundheit. Meine Bachelorarbeit habe ich damals über Schönheitsoperationen am weiblichen Genitalbereich geschrieben.

Einen Aha-Moment hatte ich in meinem Medizinanthropologiestudium. Ich bin darauf aufmerksam geworden, dass sich die Lebenserwartung von Männern nach der Eheschließung um sieben bis neun Jahre erhöht. Es hat mich stutzig gemacht, dass Männer von einer Heirat gesundheitlich so stark profitieren: Liegt es daran, dass ein gemeinsamer Haushalt gegründet wird? Werden Männer also auf einmal „umsorgt“? Als Medizinanthropologin konnte ich hierzu an der Universität von Granada weiterforschen. 

Ich habe außerdem beruflich und in meinem privaten Umfeld bemerkt, dass viele sehr progressive Frauen in ihrem eigenen Alltag, in den kleinen Dingen, eine konservative Rollenverteilung akzeptieren, ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Genau da möchte ich mit meinem gesellschaftstheoretischen und therapeutischen Wissen ansetzen, weil sich beide Fachrichtungen hervorragend ergänzen: Als Anthropologin und Genderexpertin kenne ich die Macht, die die Gesellschaft auf unsere alltäglichen Entscheidungen ausübt. Von der Handlungsfähigkeit jeder und jedes Einzelnen bin ich als Gestalttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie wiederum überzeugt.

Wie gendergerecht ist Fürsorgearbeit während der Corona-Pandemie verteilt?

Care-Arbeit wird insgesamt etwa zu 80 Prozent von Frauen übernommen. Wie auch im ersten Lockdown kümmern sich im Privaten wieder überwiegend Mütter um die Versorgung der Kinder. Das ist für viele Frauen eine Zerreißprobe zwischen Studium oder Job, Selbstfürsorge, Homeschooling, Kinderbetreuung und Führen des Haushalts. 

Die Ursache des Problems bestand aber schon vor der aktuellen Krise: ‚Sorgen‘ und ‚sich um andere kümmern‘ ist in unserer Gesellschaft immer noch weiblich konnotiert. Viele Frauen empfinden deshalb auch selbst eine gesteigerte Verantwortung, Fürsorgearbeit zu übernehmen – die ja, wie schon erwähnt, unbezahlt ist. 

Aber auch die Berufswahl hat aufgrund der klassischen Rollenzuschreibung oft Geschlechteraspekte: Es ist erwiesen, dass eher Frauen als Männer schlechter bezahlte Berufe wählen – und, dass Berufe, die Frauen wählen, im Laufe der Zeit immer schlechter bezahlt werden: etwa Alten- und Krankenpflege. Der Gender Care Gap – das unausgeglichene Verhältnis zwischen den Geschlechtern bei der Fürsorgearbeit – zieht viele weitere Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen nach sich.

Wie kann die „Equal Care App“ zu mehr Gendergerechtigkeit im Alltag beitragen?

Ich habe bemerkt, dass viele Frauen ein ganz konkretes Tool brauchen, um etwas in ihrem Alltag zu verändern. Zusätzlich zur Selbstreflexion und zu eventuellem feministischen Coaching.

Zunächst habe ich mit meinem Kollegen, dem Verhaltensbiologen Florian Ruland, der wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Biologie der Freien Universität ist, den „Who Cares? Rechner“ entwickelt. Auf meiner Webseite kann man kostenfrei berechnen, wie viel Gehalt man für seine Fürsorge-Tätigkeiten erhalten müsste. Als Grundlage nutzen wir Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

Um das nun aber auch im individuellen Fall nachzurechnen und nicht nur Durchschnittsdaten zu verwenden, entwickeln wir gerade die „Equal Care App“. Damit sollen die Anwenderinnen und Anwender nachvollziehen können, was tatsächlich an unsichtbarer Care-Arbeit in ihrem Alltag geleistet wird und von welcher Person.

Außerdem wollen wir die Organisation der Fürsorge-Aufgaben erleichtern und einen finanziellen Ausgleich innerhalb der Paarbeziehung ermöglichen. Ergänzend wird es Videotutorials geben, etwa dazu, wie man am besten das Gespräch sucht, um in der Partnerschaft zum Beispiel über Mental Load zu reden. Wir wollen hier unser biologisches, anthropologisches und therapeutisches Wissen bündeln. 

Wie gehen Sie bei der Unternehmensgründung vor?

Am Anfang stand unsere Idee, dann ging es um die praktische Umsetzung. Wir haben uns bei Startup-Programmen beworben und freuen uns, dass wir jetzt von verschiedenen Seiten gefördert werden.

Zum einen sind wir im „Inkubator“ der Freien Universität und haben somit einen Büroplatz in der Startup-Villa der Hochschule. Im Rahmen von Profund Innovation, der Service-Einrichtung für die Förderung von Unternehmensgründungen und Innovationen in der Abteilung Forschung der Freien Universität, steht uns dort ein Gründungsberater zur Seite.

Wir können außerdem Workshops und Veranstaltungsreihen, etwa zur Vermarktung und zu Finanzierungsmöglichkeiten besuchen – nicht nur an der Freien Universität, sondern auch bei Kooperationspartnern wie der Technischen Universität Berlin.

Außerdem werden wir mit dem „Berliner Startup Stipendium“ gefördert, durch das Gründerinnen und Gründer mit technologiebasierten Geschäftsideen von der Freien Universität, der Technischen Universität, der Charité – Universitätsmedizin und der Humboldt-Universität unterstützt werden. Das Programm wird von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe und dem Europäischen Sozialfonds finanziert. 

Wir sind gerade dabei, in das ehemalige Direktionsbüro der Europäischen Akademie Berlin umzuziehen, bleiben trotzdem gerne Teil der Villa und von „Profund“, können uns dort aber zusätzlich ein weiteres Netzwerk aufbauen. 

Zurzeit arbeiten wir mit App-Designern an unserem Prototyp, Ende 2021 soll die „Equal Care App“ auf den Markt kommen.

Die Fragen stellte Jennifer Gaschler