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Schlauer im Schwarm

Die Ausgründung iur.crowd ist eine dezentrale Plattform zum Teilen und Analysieren von Gerichtsentscheidungen

13.02.2023

Person im Anzug mit Richterhammer aus Holz

Welche Entscheidungen haben Gerichte in der Vergangenheit getroffen? Das Start-up iur.crowd bringt Legal Analytics nach Deutschland.
Bildquelle: Towfiqu barbhuiya auf Pexels

Eigentlich sollten die Entscheidungen deutscher Gerichte öffentlich einsehbar sein. Das trifft jedoch nur für weniger als ein Prozent der Entscheidungen zu. Ein Grund dafür: Sie dürfen nur ohne Angaben zu den Beteiligten veröffentlicht werden – und diese Anonymisierung ist aufwendig. Die Lücke trifft vor allem Anwält*innen, Versicherungen und Unternehmen, die Prozesse finanzieren, denn für sie wäre es besonders interessant, Informationen über den Ausgang von Fällen, die Dauer der Verfahren, die Höhe von Schadenersatzforderungen, die Anzahl der Aufhebungen von Urteilen oder über die in Urteilsbegründungen verwendeten Argumente zu erhalten.

Der Rechtsanwalt Frederik Tholey, der Softwareentwickler Jannis Schmidl und Til Bußmann-Welsch, Doktorand der Rechtswissenschaften, haben sich zusammengetan, um eine Lösung für dieses Problem zu finden. „Mit der iur.crowd bieten wir erstmals in Deutschland juristische Analytik in großem Umfang an“, sagt Jannis Schmidl. „Dazu nutzen wir maschinelles Lernen, Texterkennung und die Schwarmintelligenz unserer Kund*innen.“ Das Start-up wird durch ein EXIST-Gründerstipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert und von der Informatikprofessorin Katinka Wolter, an der Freien Universität Berlin Leiterin der Arbeitsgruppe für zuverlässige IT-Systeme, unterstützt.

Vier Gründer von iur.crowd im Teamfoto mit Gebäuden im Hintergrund

Das Team von iur.crowd (v.l.n.r.): Johann Seltmann, Jannis Schmidl, Til Bußmann-Welsch, Frederik Tholey
Bildquelle: iur.crowd

Wie hoch ist der Schadenersatz bei Datenlecks?

Das Prinzip der Plattform: Anwält*innen teilen ihre Gerichtsentscheidungen mit der iur.crowd-Software und erhalten dafür Zugang zu aussagekräftigen Analysen. Zum Schutz sensibler Informationen geht die iur.crowd zweigeteilt vor: Einerseits gibt es eine KI-gestützte Anonymisierung der Gerichtsentscheidungen, die den Zugriff auf die Volltexte ermöglicht. Andererseits gibt es die Möglichkeit, dass nur einzelne, nicht sensible Datenpunkte aus einer Gerichtsentscheidung, etwa eine Schadenersatzsumme, extrahiert und akkumuliert mit anderen Daten, etwa als durchschnittlicher Schadenersatz, ausgegeben werden.

Je mehr Daten vorliegen, desto aussagekräftiger werden die Analysen, die die Anwält*innen im Gegenzug in der Datenbank abfragen können. „Ein aktuelles Thema sind zum Beispiel Schadenersatzforderungen bei Datenlecks“ sagt Frederik Tholey, Geschäftsführer des Start-ups. Als kürzlich Kundendaten des Musikstreaminganbieters Deezer im Internet auftauchten, war unklar, ob und in welcher Höhe die Betroffenen Schadenersatz erhalten könnten. „Die iur.crowd liefert in solchen Fällen einen schnellen Überblick über relevante Trends der Rechtsprechung und berechnet, wie hoch der durchschnittliche Schadensersatz im konkreten Fall ausfallen wird. Auf einen Klick werden Daten über verknüpfte oder vergleichbare Fälle anzeigt, inklusive der wichtigsten Argumente aus den Begründungen der richterlichen Entscheidungen.

Mehr als 400 Kund*innen nutzen die iur.crowd bereits

„Wer Informationen in der iur.crowd teilt, verbessert automatisch das Produkt. Darüber hinaus belohnen wir das Teilen mit einem Preisnachlass für die Analysen“, sagt Til Bußmann-Welsch. In vielen Ländern Europas, in den USA, Asien und Australien gehören Legal Analytics längst zum Branchenalltag. Dennoch hat das Team vor dem Start des Gründungsprojekts zunächst eine bundesweite Umfrage durchgeführt – mit ermutigenden Ergebnissen: Von 1.100 Anwält*innen gaben 85 Prozent an, dass sie bereit wären, Gerichtsentscheidungen zu teilen. Interesse an den Auswertungen äußerten 65 Prozent der Befragten. Inzwischen nutzen bereits 430 Kund*innen die Plattform, obwohl sie noch nicht ganz ausgereift ist.

Hauptzielgruppe der iur.crowd sind Freiberufler und kleinere Kanzleien, die etwa 70 Prozent der Anwält*innen in Deutschland ausmachen und über einen Großteil der erstrittenen Gerichtsentscheidungen verfügen.

Der Nutzen der geteilten Daten liegt auf der Hand: „Unsere Kunden sparen viel Zeit, die sie sonst mit der aufwendigen Suche nach Informationen über Gerichtsentscheidungen verbringen würden. Sie wissen, wie vergleichbare Verfahren in der Vergangenheit ausgegangen sind und können auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen“, sagt Til Bußmann-Welsch. Aber auch für interessierte Bürger*innen und die Verständlichkeit des Rechtssystems insgesamt sieht Frederik Tholey einen Nutzen: „Langfristig wollen wir ermöglichen, dass alle gerichtlichen Entscheidungen kostenlos und maschinenlesbar zur Verfügung stehen. Nur dann wird die Rechtsprechung allen Bürger*innen vollumfassend zugänglich sein.“

 

Weitere Informationen

Die Freie Universität Berlin fördert Unternehmensausgründungen mit der Service-Einrichtung Profund Innovation in der Abteilung Forschung. Profund Innovation unterstützt Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Alumni dabei, Anwendungsideen für ihre Forschung zu entwickeln, Start-ups oder Spin-Offs zu gründen sowie Forschungsergebnisse gemeinsam mit etablierten Unternehmen zu verwerten. Das EXIST-Gründerstipendium ist ein Förderprogramm des Bundeswirtschaftsministeriums und wird durch den Europäischen Sozialfonds kofinanziert.