Erinnerungsorte an NS-Verfolgte auf dem Campus der Freien Universität
„Stolperstein“ vor der Hittorfstraße 16 zum Gedenken an Kleiderfabrikanten Bernhard Einzig verlegt
09.07.2010
Dahlem entwickelte sich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer ersten Adresse Berlins. Unternehmer, Künstler, Wissenschaftler, Politiker und Generäle, die es sich leisten konnten, zogen dorthin. Viele bekannte Namen der goldenen Zwanziger finden sich im Adressbuch des Bezirks.
Unter B zum Beispiel entdeckt man Erna Berger, die weltweit bewunderte Sopranistin, sie wohnte Am Hirschsprung. Die Schauspielerin Elisabeth Bergner hatte ein Haus im Faradayweg, die Journalistin Margret Boveri Im Schwarzen Grund, der Biochemiker Adolf Butenandt in der Van’t-Hoff-Straße und der Bildhauer Arno Breker am Käuzchensteig.
Nachdem 1933 Brekers Bewunderer und Förderer die Macht ergriffen und der Freiheit den Garaus gemacht hatten, eigneten sich nationalsozialistische Emporkömmlinge den Besitz jüdischer Bürger Dahlems an oder kauften sich mit ergaunertem Neureichtum im Villenviertel ein. So – ebenfalls unter dem Buchstaben B zu finden – der „Sekretär des Führers“ Martin Bormann oder der Schatzmeister der Deutschen Arbeitsfront Paul Brinckmann.
Kaufmannsfamilie Thoman
Zu den Zehlendorfer Mitbürgern, die durch die Nazis Hab und Gut – in vielen Fällen ihr Leben verloren, gehörten die Kaufmannsfamilien Thoman, Einzig und Scherk. Die von ihnen errichteten Gebäude befinden sich seit 1968 im Eigentum der Freien Universität. Das Grundstück Koserstraße 21 wurde im Grundbuch Berlin-Dahlem als bebauter Hofraum mit Hausgarten am 25. Mai 1923 auf den Kaufmann Ignatz Thoman eingetragen und danach mit einer Villa bebaut.
Thoman starb 1939 und vererbte das Haus seiner Frau Franziska, genannt Fanny. Die gebürtige Tschechin, Jahrgang 1881, wurde im Sommer 1940 zum Verkauf ihrer Villa gezwungen und kam bei ihrer Nichte Lenka in der Berliner Straße in Wilmersdorf unter. Laut Grundbuch wurde ihr Besitz im August 1940 auf das Deutsche Reich, „vertreten durch den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren, Hauptamt Haushalt und Bauten (in Berlin-Lichterfelde)“ eingetragen.
Der Kaufvertrag wurde am 31. August 1940 zwischen dem Prokuristen Albert Kühnel und dem Konsulenten F. W. Israel Arnold geschlossen. Über die gezahlte Summe von 86.000,- Reichsmark konnte Fanny Thoman jedoch nie verfügen, das Geld lag bis Kriegsende auf einem Konto der Preußischen Staatsbank. Haus und Grundstück Koserstraße 21 gingen im Juli 1942 an die Deutschen Wirtschaftsbetriebe GmbH und im Dezember 1943 an die Haus- und Grundstücks-GmbH in Lichterfelde-West über.
Beide Firmen gehörten zum Wirtschaftsimperium der SS, an dessen Spitze SS-Obergruppenführer Oswald Pohl stand. Pohl teilte sich gleich nach dem Zwangsverkauf an die SS die Villa aus jüdischem Besitz als Dienstwohnung zu, um möglichst nah bei Reichsführer Heinrich Himmler zu wohnen, der sich am Dahlemer Dohnenstieg eingekauft hatte.
Der „Buchhalter des Todes“ Oswald Pohl und sechs andere SS-Leute waren die letzten in Nürnberg verurteilten Kriegsverbrecher, die im Juni 1951 in der Haftanstalt Landsberg am Lech hingerichtet wurden. Fanny Thoman, deren Haus er sich 1940 unter den Nagel gerissen hatte, wurde deportiert und am 26. Oktober 1943 in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert. Sie hatte bis dahin gemeinsam mit ihrer Nichte in Charlottenburg gewohnt. Die SS tötete die 63-Jährige am 8. Februar 1945 in Ravensbrück. Ihr Name ist mit der Adresse Koserstraße 21 im Gedenkbuch für die Opfer des Konzentrationslagers eingetragen. Seit September 2006 erinnert ein von dem Kölner Bildhauer Günter Demnig verlegter „Stolperstein“, eine Gedenktafel aus Messing, vor der Koserstraße 21 an Fanny Thoman.
Kleiderfabrikant Bernhard Einzig
In der Hittorfstraße 16, in der heute die Dahlem Research School der Freien Universität untergebracht ist, wohnte in den zwanziger und dreißiger Jahren der Kleiderfabrikant Bernhard Einzig. Er war wie Fanny Thoman tschechischer Herkunft. Bernhard Einzig nahm als österreichisch-ungarischer Kavallerieoffizier am Ersten Weltkrieg teil.
Seine Enkelin Charlotte Innes erinnert sich, dass ihr Großvater sich besonders für die englische Philosophie interessierte und gern seine Freunde und Bekannte zu Kammermusikabenden in seine Dahlemer Villa einlud. Mit seiner Frau versteckte er sich Anfang der vierziger Jahre vor dem Zugriff der Nationalsozialisten.
Einzig wurde 1942 beim Versuch festgenommen, in die Schweiz zu fliehen. Seine Frau Eugenie und eine Freundin der Familie konnten entkommen. Bernhard Einzig wurde im Dezember 1943 im Alter von 69 Jahren im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Zu seinem Gedenken wurde am vergangenen Dienstag vor seinem früheren Wohnsitz in der Hittorfstraße 16 ein „Stolperstein“ des Künstlers Demnig verlegt.
Schicksale aus der NS-Zeit, die mit Gebäuden auf dem Campus verbunden sind
Ebenfalls von einem jüdischen Kaufmann errichtet wurde das heute vom Institut für Pharmazie genutzte Fabrikgebäude in der Kelchstraße 31. Das nach Plänen des Hamburger Architekten Fritz Höger 1926 im Auftrag des Pharmazie- und Kosmetikunternehmers Ludwig Scherk (1880–1946) errichtete Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg teilweise beschädigt. Ludwig Scherk war mit einem Teil seiner Familie emigriert, sein Unternehmen wurde dem Schering-Konzern übereignet.
Der Sohn des Firmengründers Fritz Scherk kehrte nach dem Krieg zurück und sorgte für die Wiederherstellung des Unternehmenssitzes. Auf Initiative seiner Tochter Irene Scherk brachte die Freie Universität im Jahr 2006 am Gebäude in der Kelchstraße eine Erinnerungstafel für die jüdische Unternehmerfamilie Scherk an.
Seit Gründung der Freien Universität 1948 bewegten die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Würdigung des Widerstands gegen die NS-Diktatur mehrere Generationen von Studierenden und Lehrenden. Aber erst relativ spät, Mitte der siebziger Jahre, setzte eine intensivere Wahrnehmung der konkreten, unmittelbar mit einigen Gebäuden auf dem Campus verbundenen Schicksalen und Geschichten aus der NS-Zeit ein.