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Eine Frage der Moral

Harvard-Professor Michael Sandel warnte in seinem Vortrag an der Freien Universität vor einer Gesellschaft, in der alle Lebensbereiche den Regeln des Marktes gehorchen

28.10.2013

Philosophie-Professor Michael Sandel bezieht das Publikum ein: Er wirft Fragen auf, fordert Argumente ein und führt Debatten.

Philosophie-Professor Michael Sandel bezieht das Publikum ein: Er wirft Fragen auf, fordert Argumente ein und führt Debatten.
Bildquelle: Thomas Rostek

„Ohne es zu merken, haben wir uns von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft gewandelt“, warnte Harvard-Professor Michael Sandel in seinem Dialog-Vortrag an der Freien Universität Berlin.

„Ohne es zu merken, haben wir uns von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft gewandelt“, warnte Harvard-Professor Michael Sandel in seinem Dialog-Vortrag an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Thomas Rostek

Ein zum Bersten voller Hörsaal ist nichts Ungewöhnliches für Michael Sandel. Der US-amerikanische Philosophieprofessor, der vom Londoner „Observer“ zum prominentesten Morallehrer der Welt erklärt wurde und dessen Vorlesungsreihe „Justice“ auf YouTube auf fast fünf Millionen Klicks kommt, wurde an der Freien Universität Berlin mit tosendem Applaus begrüßt. Sandel war gekommen, um über die moralischen Grenzen der Märkte zu reden. „Was man mit Geld nicht kaufen kann“ heißt sein auf Deutsch 2012 im Ullstein Verlag veröffentlichtes Buch zum Thema.

Wie wäre es, wenn die Aufnahmekapazitäten von Flüchtlingen unter den Ländern verhandelbar wären, ähnlich wie beim Emissionshandel für Kohlenstoffdioxid? Sollten sich weniger begabte Schulabsolventen einen Platz an Universitäten erkaufen können? Ist ein Markt von Wählerstimmen vorstellbar, auf dem die Stimmen derjenigen Bürger verkauft würden, die ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen? Nach den Prinzipien der Marktwirtschaft, bei der die Nachfrage das Angebot bestimmt, wären all diese Fragen wohl mit Ja zu beantworten.

Die Besucherinnen und Besucher im Hörsaal der Freien Universität aber sträuben sich: Wo bleibe da die Gerechtigkeit, die Fairness und Verantwortung, die Menschen in einer demokratischen Gesellschaft füreinander tragen? Und schon dreht sich Sandels Karussell der Moraldebatte.

„Ohne es zu merken, haben wir uns von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft gewandelt“, warnt der 60-jährige Sandel. Für ihn ist die Marktgesellschaft eine Lebensweise, in der alles zum Verkauf steht und die durch marktwirtschaftliches Denken strukturiert ist.

Preisschilder lassen den Wert der Dinge sinken

Der Harvard-Dozent und das Publikum tauschen Argumente aus, Sandel greift sie auf und stellt sie in einen philosophischen Kontext. Zwei Argumente führt Sandel dabei gegen die Märkte an: Fairness, die etwa fehle, wenn Menschen etwa ihre Wahlstimme oder – um einen extremen Fall zu nennen – Organe aus einer existentiellen Notlage heraus verkauften. Zum anderen verlören Dinge an Wert, sobald an ihnen ein Preisschild hängt: Wenn ein Recht auf Umweltverschmutzung wie beim Emissionshandel mit Kohlenstoffdioxid käuflich wäre, werde dem Umweltschutz die Ernsthaftigkeit genommen. Gleiches gelte, wenn es möglich sei, sich einen Platz an der Hochschule zu kaufen.

„Debatten über große ethische Fragen machen uns zu besseren demokratischen Bürgern"

Michael Sandel ist der Popstar unter den Philosophen: Seine Bücher wurden in 21 Sprachen übersetzt, die BBC hat seine Vorlesungen im TV übertragen. Auch an der Freien Universität Berlin ist der Hörsaal während der von der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata" an der Goethe Universität Frankfurt, der Freien Universität Berlin und den Ullstein Buchverlagen organisierten Veranstaltung bis auf den letzten Platz gefüllt.

„Sandel spricht in beeindruckender Klarheit von sehr komplexen Themen“, sagt eine 23-jährige Studentin, die über seine Online-Vorlesungen auf den Philosophen aufmerksam geworden ist. Seine Fragen nach Moral und Gerechtigkeit haben die Bachelorstudentin nachträglich zum Grübeln gebracht. Sandel wäre erfreut: „Wenn wir Debatten über große ethische Fragen führen, wird uns das zu besseren demokratischen Bürgern machen. Es wird uns helfen, einander besser zuzuhören und voneinander zu lernen.“