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Grausamkeiten notieren, um Empathie zu erzeugen

Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator hielt an der Freien Universität Berlin die dritte Siegfried Unseld Vorlesung

12.12.2016

In ihrem Vortrag „The Horror of Cruelty” ...

In ihrem Vortrag „The Horror of Cruelty” ...
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

... sprach die polnische Autorin über die Herausforderungen und die Aufgaben des Schreibens angesichts von Grausamkeiten und Gewalt.

... sprach die polnische Autorin über die Herausforderungen und die Aufgaben des Schreibens angesichts von Grausamkeiten und Gewalt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Universitätspräsident Professor Peter-André Alt schätzt die Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag, die 2012 begründet worden ist.

Universitätspräsident Professor Peter-André Alt schätzt die Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag, die 2012 begründet worden ist.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Begrüßte Joanna Bator zur Siegfried Unseld Vorlesung: Professor Paul Nolte. Der Historiker ist Sprecher des Dahlem Humanities Centers, das die Veranstaltung ausrichtet.

Begrüßte Joanna Bator zur Siegfried Unseld Vorlesung: Professor Paul Nolte. Der Historiker ist Sprecher des Dahlem Humanities Centers, das die Veranstaltung ausrichtet.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Katharina Raabe ist Joanna Bators Lektorin im Suhrkamp Verlag. Sie freute sich, dass die polnische Autorin die diesjährige Unseld-Vorlesung hielt.

Katharina Raabe ist Joanna Bators Lektorin im Suhrkamp Verlag. Sie freute sich, dass die polnische Autorin die diesjährige Unseld-Vorlesung hielt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Im Gespräch mit ihren Lesern: Nach der Vorlesung signierte Joanna Bator ihre Bücher.

Im Gespräch mit ihren Lesern: Nach der Vorlesung signierte Joanna Bator ihre Bücher.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Was verleitet Menschen zu grausamen Taten? Was macht sie zu Schlägern, was zu Mördern? Fragen, mit denen sich die polnische Schriftstellerin seit Jahren auseinandersetzt und die sie in der vergangenen Woche an den Anfang ihrer Siegfried Unseld Vorlesung mit dem Titel „The Horror of Cruelty“ stellte. Joanna Bator, 1968 im niederschlesischen Wałbrzych geboren, begann ihren Vortrag mit der wahren Geschichte eines jungen Paares, das in der Nähe der polnischen Stadt Biała Podlaska die Eltern des männlichen Täters kaltblütig ermordet hatte. Das Besondere an dem Fall sei nicht nur die ungewöhnliche Grausamkeit der Tat gewesen, sondern auch die emotionale Kälte des Paares nach seiner Festnahme durch die Polizei. Mit Blick auf die Bilder, die das Fernsehen von den Mördern gezeigt hatte, sagte Bator: „In den Augen der jungen Frau und des jungen Mannes konnte ich keine menschliche Regung erkennen, nur reine Gleichgültigkeit.“

Nach dem Ereignis hat die polnische Schriftstellerin die Berichterstattung in den Boulevard-Medien und im Internet verfolgt und die Interpretationsversuche der Tat durch die Leser zu analysieren versucht. In den Kommentar-Spalten polnischer Sensations-Portale hatten einige die Täter als Unmenschen, Monster oder Dämonen bezeichnet, andere wiederum als arme Opfer ihrer eigenen Erziehung. Wiederum andere hatten krude Verschwörungstheorien entwickelt. „Aus den Reaktionen konnte ich herauslesen, dass Grausamkeit gleichermaßen abschreckt wie fasziniert“, sagte Joanna Bator. „Aber wir können die Gründe für grausames Verhalten nicht verstehen.“

Erklärungsversuche von Theoretikern

Im weiteren Verlauf ihres Vortrags verwies die Schriftstellerin auf den Essay „Putting Cruelty First“ der US-amerikanischen Politologin Judith N. Shklar sowie die Gewalt-Theorien von drei weiteren Geisteswissenschaftlern. Bators Ziel war es, mögliche Gründe für grausames Verhalten aus den Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen zu beleuchten. Nach Ansicht der Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller erziehen grausame Eltern grausame Kinder. Wer als Kind Gewalt erfahren habe, lebe als Erwachsener im Verdrängungsmodus und verarbeite seine Trauer durch grausame Taten und Rachehandlungen. „Täter sind in der Mehrzahl selbst mal Opfer gewesen“, fasste Bator die Quintessenz von Millers Theorie zusammen.

„Das Tier in uns ist gut“

Der niederländische Verhaltensforscher und Primatologe Frans de Waal hat versucht, sich dem Phänomen menschlicher Grausamkeit mithilfe darwinistischer Modelle zu nähern. Die Gründe für sinnlose Gewaltexzesse suchte er in den Unterschieden zwischen Mensch und Tier und erforschte dabei insbesondere das Sozialverhalten von Schimpansen und Bonobos. Doch anstatt die populäre Vorstellung zu verbreiten, Grausamkeit sei instinktiv und lasse sich auf animalische Triebe zurückführen, konnte de Waal belegen, dass in großen Bereichen des Tierreichs Empathie und Respekt vorherrschten und Gewalt nur in Notsituationen vorkäme – also nicht zum Zweck der puren Lust an der Erniedrigung und Vernichtung, sondern vor allem als Selbstverteidigung. „Das Tier in uns ist gut“, resümierte Bator und schloss mit dem Satz: „Im Vergleich zum Tier haben wir Menschen eine besondere Gabe: das Reflexionsvermögen. Wir können entscheiden, Gewalt anzuwenden oder nicht.“

„Grausamkeit ist ein Produkt des sinnlos Bösen“

Als dritten Theoretiker nannte Bator den Briten Terry Eagleton. Der marxistische Literaturwissenschaftler versteht Grausamkeit als Resultat einer metaphysischen Leere. „Die pure Abwesenheit eines wie auch immer geformten Sinns macht uns grausam“, fasste Bator Eagletons Theorie zusammen und verwies darauf, dass bei allen Taten von obszöner Gewalt – ob es sich um einen Mord oder einen Genozid handele – bei den Tätern immer ein Fehlen von Empathie festzustellen sei. „Anders gesagt: Grausamkeit ist ein Produkt des sinnlos Bösen“, stellte Bator mit Verweis auf Eagleton fest.

Was kann Literatur gegen Grausamkeit ausrichten?

Am Ende ihres Vortrags kam die Schriftstellerin aufs Schreiben zurück: Welche Rolle kommt der Literatur bei der Bekämpfung von Grausamkeiten zu? Bator bezeichnete sich selbst als liberale Ironikerin im Sinne des amerikanischen Philosophen und Komparatisten Richard Rorty und plädierte dafür, mit den Mitteln der Sprache „grausame Literatur“ zu erschaffen, die beim Leser den Sinn für Ungerechtigkeiten schärft. Die Inszenierung von Tod und Grausamkeit, wie sie auch in ihrem neuesten Buch „Dunkel, fast Nacht“ zu entdecken sei, schüre beim Leser zwar große Verzweiflung über den Zustand der Welt, erzeuge aber auch das Gefühl der Solidarität – sowohl mit den Opfern als auch mit den Tätern. Wer grausam zu seinen Lesern sei, so Bator, ermögliche die wichtigste Bedingung für die Vermeidung von roher Gewalt: Empathie.