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Verweigerer süffiger Formeln

„Wovon reden wir, wenn wir von ‚Gesellschaft' reden?" – Soziologieprofessor Armin Nassehi hat die Hegel Lecture des Dahlem Humanities Centers gehalten

09.01.2018

War auf Einladung des Dahlem Humanities Centers an die Freie Universität gekommen: Armin Nassehi, Soziologieprofessor an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Er folgte damit auf prominente Vortragende wie Judith Butler und Slavoj Žižek.

War auf Einladung des Dahlem Humanities Centers an die Freie Universität gekommen: Armin Nassehi, Soziologieprofessor an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Er folgte damit auf prominente Vortragende wie Judith Butler und Slavoj Žižek.
Bildquelle: Nora Lessing

Sie sei ein Höhepunkt im akademischen Kalender der Freien Universität, sagte Professor Peter-André Alt, Präsident der Freien Universität, in seinem Grußwort zur Hegel Lecture: Im Dezember hatte das Dahlem Humanities Center (DHC) den renommierten Münchener Soziologen Armin Nassehi in den Henry-Ford-Bau nach Dahlem eingeladen – in „die geisteswissenschaftliche Mitte Berlins", so Geschichtsprofessor Paul Nolte, Sprecher des DHC, in seiner Begrüßung.

Nassehi sei ein „ungemein produktiver Kollege“, ein Grenzgänger zwischen Soziologie und Philosophie, ein öffentlicher Intellektueller, der sich einmische und dem oftmals unterkomplexen, öffentlichen Diskurs Komplexität entgegensetze. Dabei verweigere sich Nassehi „süffigen Formeln“, die es ihm einfacher machen könnten, Gehör zu finden: „Nassehi ist ein natürlicher Gegner des Populismus“, so Nolte.

Universitätspräsident Peter-André Alt (links) und Soziologe Armin Nassehi sowie die Arabistin Beatrice Gründer und der Historiker Paul Nolte vom Dahlem Humanities Center (rechts).

Universitätspräsident Peter-André Alt (links) und Soziologe Armin Nassehi sowie die Arabistin Beatrice Gründer und der Historiker Paul Nolte vom Dahlem Humanities Center (rechts).
Bildquelle: Nora Lessing

Dass Nassehi seine soziologischen Theorien an jenem Dezemberabend nicht anhand „feinziselierter Lehrgebäude“ entwickelte, sondern mithilfe gut verständlicher Beispielgeschichten vorstellte, brachte dem zahlreich erschienenen Publikum nicht nur Erkenntnisgewinn, sondern hatte auch Unterhaltungswert. Als Beispiel für seine soziologischen Beobachtungen bot sich der Wissenschaftler selbst an: Er forderte die Zuhörerinnen und Zuhörer auf, seine Erscheinung zu begutachten – und half mit launigen Beschreibungen seines Lebens- und Kleidungsstils aus. Seine Schlussfolgerung: „Diese Beschreibung ist unfassbar langweilig, weil sie so erwartbar ist. Ich bin bürgerlich durch und durch.“

Doch auch das Verhalten des Publikums, so Nassehi, zeige erwartbare Züge: Es sei sichtlich geübt darin, Vorträgen zu folgen. Es stelle sich also die Frage, warum es, obwohl jedem Einzelnen in jeder Situation zahlreiche Verhaltensoptionen zur Verfügung stünden, stets zu Regelmäßigkeiten komme. Man müsse versuchen, sagte Nassehi, „dieses Unsichtbare, das zu signifikanten Mustern führt“, zu beschreiben, um sich dadurch dem abstrakten Begriff ‚Gesellschaft’ anzunähern.

Der Historiker Paul Nolte ist Sprecher des Dahlem Humanities Centers.

Der Historiker Paul Nolte ist Sprecher des Dahlem Humanities Centers.
Bildquelle: Nora Lessing

Historisch werde Gesellschaft als etwas Gestaltbares begriffen, das viel mit Abgrenzung von anderen zu tun habe, sagte Nassehi. Untersuchungen zeigten etwa, dass Ehepartner nicht nur als konkrete Personen ausgewählt würden, sondern auch nach ihrer sozialen Zugehörigkeit. Auch dies weise darauf hin, dass es sich bei Gesellschaft um keine zufällige Anordnung von Individuen handele, sondern um ein komplexes Zusammenspiel sozialer Gruppen.

„Das Gefühl der Zugehörigkeit ist ein Simulat des Politischen“, so Nassehi. Es obliege der Politik, Gesellschaft als einen Gestaltungsraum zu begreifen, in dem Zugehörigkeit erzeugt werde. Gesellschaft werde daher häufig als rein politischer Begriff verstanden, ginge jedoch weit darüber hinaus. Kollektivitäten zu erzeugen, sei zwar eine politische Aufgabe, hieraus ergebe sich jedoch die Schwierigkeit, dass stets entschieden werden müsse, wer dazu gehöre und wer nicht. Gesellschaft erweise sich dabei „als System und Arena der Lebenswelt“, in der sich Handlungskoordination und Identitäten auf Faktoren wie Macht und Geld stützten.

Um verschiedene, historisch einflussreiche Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand „Gesellschaft“ aufzuzeigen, erinnerte Nassehi an die theoretischen Schriften des Philosophen Thomas Hobbes und des Anthropologen Émile Durkheim, denen zwei grundverschiedene Metaphern zugrunde liegen. Hobbes etwa stelle in seinem staatsphilosophischen Werk ‚Leviathan’ die Frage: „Wie kann ich dafür sorgen, dass der andere will, was er soll?“. Hinter dieser Sicht verberge sich die Überzeugung, dass der Mensch so beschaffen sei, „dass er andere auf den Kopf haut und sich nimmt, was er haben will“ – eher aggressiv als freiwillig kooperativ. Staat und Gesellschaft erschienen bei Hobbes somit als Auftraggeber des Subjekts, das sich ihnen unterwerfen müsse. Der Soziologe Émile Durkheim wiederum begreife die arbeitsteilige Gesellschaft als einen Körper mit verschiedenen Organen. Hier bleibt laut Nassehi die Frage: „Wer ordnet die Teile an? Wo ist der Gesamtorganismus?“

Seiner Ansicht hätten moderne Gesellschaften vergleichbare Strukturen wie das Internet, sagte Nassehi: „Kein zentraler Server, unterschiedliche Rechnerleistungen. Das Politische wird zur zentralen Schnittstelle gemacht.“ Öffentliche Gesellschaftsdebatten entzündeten sich jedoch häufig eher an analogen Sichtbarkeiten wie Hautfarbe oder Geschlecht – an Merkmalen also, die sofort und über die menschlichen Sinnesorgane wahrzunehmen sind. Dabei könne man sich durchaus fragen, warum beispielsweise ein Phänomen wie kulturelle Diversität als größeres Problem gesehen werde – und damit Debatten anstoße – als beispielsweise die Instabilität des Dollars, die weltweit gravierende Auswirkungen haben kann. Als Grund vermutet Nassehi, dass ein Phänomen wie die Instabilität des Dollars nur digital zu erkennen sei.

Derzeit zeichne sich mit Big Data und Co. möglicherweise eine Revolution ab, die grundlegende epistemologische Veränderungen anstoßen könne, vermutete der Soziologe. Er vertrat die These, dass Gesellschaft schon immer digital gewesen sei. Der Komplexitätsgrad des Forschungsgegenstands Gesellschaft werde durch Phänomene wie Big Data nur sichtbarer, als er es zuvor – etwa in den „goldenen“ Nachkriegsjahren der westlichen Gesellschaften – gewesen sei. Wo früher eine Forschungsfrage vor dem Erheben von Daten gestanden habe, lägen heute große Datenbestände vor, aus deren Betrachtung sich Fragestellungen ergeben könnten. Es zeichne sich sowohl für die Forschung als auch für die Art und Weise, wie insgesamt über Gesellschaft gedacht wird, eine Wende ab.

Am Ende bot Nassehi eine Definition an: Gesellschaft sei „die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem“. Ihre Veränderbarkeit und Eigendynamik mache das komplexe Phänomen Gesellschaft für die Wissenschaft jedoch grundsätzlich schwer zu fassen. Hegel war seinerzeit von der Existenz des Absoluten, Allumfassenden ausgegangen. Was von dessen Philosophie, der Dialektik, übrigbleibe, lasse sich unter dem Begriff ‚Gesellschaft’ zusammenfassen, sagte Nassehi. Die Ansicht, dass die zahlreichen Einzelphänomene, aus denen sich Gesellschaft zusammensetze, ein Ganzes ergeben, sei allerdings heute „leider zu altmodisch“, so der Wissenschaftler in seinem Schlusswort.