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Ziemlich beste Freunde

1968 bis 2018: In St. Petersburg wurde die 50-jährige Partnerschaft zwischen der Staatlichen Universität St. Petersburg und der Freien Universität Berlin gefeiert

03.12.2018

Die Staatliche Universität St. Petersburg heute – der Vertrag, der vor 50 Jahren geschlossen wurde, war der erste Partnerschaftsvertrag zwischen einer Universität der Bundesrepublik und West-Berlins und einer sowjetischen Universität.

Die Staatliche Universität St. Petersburg heute – der Vertrag, der vor 50 Jahren geschlossen wurde, war der erste Partnerschaftsvertrag zwischen einer Universität der Bundesrepublik und West-Berlins und einer sowjetischen Universität.
Bildquelle: Wikipedia

Neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachgebieten der Freien Universität Berlin waren auch Professorin Verena Blechinger-Talcott, Vizepräsidentin für Internationales, und Kanzlerin Andrea Bör nach Russland gereist.

(v.l.n.r.) H.-M. Meis, CIC, Vizepräsidentin Prof. Dr. V. Blechinger-Talcott, Kanzlerin Dr. A. Bör, N. Taranova, Lt. Intern. Research & Technology Department, stellv. Rektor S. Andryushin, Vizerektor S. Aplonov, T. Stüdemann, Verbindungsbüro Moskau.

(v.l.n.r.) H.-M. Meis, CIC, Vizepräsidentin Prof. Dr. V. Blechinger-Talcott, Kanzlerin Dr. A. Bör, N. Taranova, Lt. Intern. Research & Technology Department, stellv. Rektor S. Andryushin, Vizerektor S. Aplonov, T. Stüdemann, Verbindungsbüro Moskau.
Bildquelle: Bild zur Verfügung gestellt von spbu.ru

Während der Feierlichkeiten am 19. und 20. November zum 50-jährigen Bestehen der Partnerschaft wurde der wechselvollen Geschichte beider Universitäten gedacht, die Bedeutung der 2012 eingegangenen strategischen Partnerschaft hervorgehoben und der Blick auf die Zukunft der Kooperation gerichtet. Ausgerechnet 1968, in der Zeit der Studentenunruhen, war die Kooperation geschlossen worden.

Es ist Januar 1968: Während an der Freien Universität die Studentenproteste ihren Höhepunkt erreichen, Demonstranten den Henry-Ford-Bau besetzen, gegen die Bundesregierung und die Außenpolitik der Amerikaner protestieren, schließt die Freie Universität fast unbemerkt einen Partnerschaftsvertrag mit der Schdanow-Universität Leningrad ab, der heutigen Staatlichen Universität St. Petersburg.

26. Januar 1968: Rektor Ewald Harndt (1. v. r.) und sein Amtsvorgänger, Hans-Joachim Lieber (2. v. r.) unterzeichnen den Partnerschaftsvertrag mit der Schdanow-Universität Leningrad, der heutigen Staatlichen Universität St. Petersburg.

26. Januar 1968: Rektor Ewald Harndt (1. v. r.) und sein Amtsvorgänger, Hans-Joachim Lieber (2. v. r.) unterzeichnen den Partnerschaftsvertrag mit der Schdanow-Universität Leningrad, der heutigen Staatlichen Universität St. Petersburg.
Bildquelle: Hellmuth Pollaczek

Aus heutiger Sicht wirft das Bündnis Fragen auf: Wie konnte es sein, dass die Freie Universität mit einer staatlichen Universität aus der Sowjetunion eine Partnerschaft einging? Ausgerechnet die Freie Universität, die in West-Berlin als Gegenmodell zur Ost-Berliner Humboldt Universität gegründet wurde, und an der Freiheit der Lehre herrschen sollte. Und warum rund um das politisch aufgeladene Jahr 1968, in dem der damalige Rektor der Freien Universität, der Zahnmediziner Professor Ewald Harndt, den protestierenden West-Berliner Studierenden eine ideologische Nähe zur DDR und dem Sowjet-Kommunismus unterstellte?

Im Januar 1966 bahnte sich der Kontakt an

„Es gibt einige Indizien“, sagt Tobias Stüdemann, Leiter des Moskauer Verbindungsbüros der Freien Universität. Zum Beispiel, dass im Januar 1966 zwei Vertreter der Botschaft der UdSSR in Ost-Berlin, Botschaftsrat Boronin und der 1. Sekretär der Botschaft, Beletzky, den ersten Kontakt zur Freien Universität Berlin aufnahmen. Sie besuchten die Freie Universität und baten um ein Gespräch mit dem damaligen Rektor Hans-Joachim Lieber. „Dieser Besuch war schon deswegen ungewöhnlich, weil die Diplomaten ohne Ankündigung gekommen waren“, sagt Eckard Matthes, der von 1971 bis 1982 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Universitäts-Außenamt der Freien Universität arbeitete. Lieber begrüßte die beiden Herren und verwies sie dann zum Gespräch an Horst Hartwich, den damaligen Leiter des Universitäts-Außenamtes und Gründungsstudenten der Freien Universität.

Die Diplomaten erkundigten sich, ob die Freie Universität Interesse an einer Zusammenarbeit mit einer sowjetischen Hochschule habe und schlugen hierfür drei mögliche Universitäten vor: Kiew, Moskau und Leningrad. Hartwich gab zu verstehen, dass die Freie Universität eher nicht an einem formellen Vertrag interessiert sei, da internationale Zusammenarbeit, auch mit sowjetischen Wissenschaftlern, fruchtbarer direkt auf Fakultäts- und Institutsebene stattfände. Hartwich, der später maßgeblich für die Kooperation mit der Universität Leningrad eintreten sollte, blieb in diesem frühen Stadium zunächst zurückhaltend. Man habe vor dem Hintergrund eines geplanten deutsch-sowjetischen Kulturabkommens keinen Anlass schaffen wollen, der als ein „Argument gegen die Einbeziehung West-Berlins“ in das Abkommen hätte benutzt werden können, wie er Hartwich schrieb.

Unterschiedliche Interessens-Schwerpunkte

„Die Freie Universität war aber an einer Partnerschaft mit sowjetischen Wissenschaftlern interessiert“, sagt Eckhard Matthes. Im Sommer 1966 legte die Leningrader Staatliche Universität der Freien Universität Berlin ein offizielles Partnerschaftsangebot vor, das kurz danach angenommen wurde.

Beide Universitäten verfügten jedoch über unterschiedliche Interessens-Schwerpunkte. Der Freien Universität lag besonders ein Ausbau der Regionalforschung am Herzen, etwa im Bereich der Slawistik, der osteuropäischen Geschichte und des osteuropäischen Rechts. Die Leningrader Universität suchte stärker Kontakte im Bereich der Naturwissenschaften, anfangs besonders in der Kristallstruktur-Analyse. Kontakte einzelner Wissenschaftler der Freien Universität hatte es auch zuvor schon in die Sowjetunion gegeben. Diese konnten nun über die Partnerschaft erweitert werden.

Das Partnerschaftsabkommen wurde von Nikolay Penkin, Prorektor der Leningrader Staatlichen Universität, und von Ewald Harndt, Rektor der Freien Universität im Januar 1968 anlässlich des Besuchs einer Leningrader Delegation in Berlin unterzeichnet. Die Parteien beschlossen, dass jede Universität jährlich zwei bis drei Professoren für Vorlesungen und zwei junge Wissenschaftler für Forschungszwecke schicken sollte. Darüber hinaus konnte ein Dozent für Deutsch bzw. Russisch für die Länge eines Studienjahres eingeladen werden.

Erste Stipendiaten der Freien Universität von Oktober 1969 an in Leningrad

Eckhard Matthes war zusammen mit Peter Jahn dann auch einer der beiden ersten Stipendiaten, die von Oktober 1969 an für jeweils zehn Monate an die Leningrader Staatliche Universität fuhren. Beide arbeiteten an ihren Dissertationen zum deutschen Russlandbild im 18. und 19. Jahrhundert. „Die Vergabe der Forschungsaufenthalte wurde in diesem frühen Stadium der Partnerschaft noch recht formlos vollzogen“, sagt Eckhard Matthes. Beide Stipendiaten arbeiteten hauptsächlich in Bibliotheken und verbesserten ihr Russisch durch Einzelunterricht auf.

Anfang der 1970er Jahre gestaltete sich der Aufbau der Kooperation noch mühsam, „die Zusammenarbeit für beide Universitäten war noch unerprobtes Neuland“, so Eckhard Matthes. Er könne sich noch gut daran erinnern, wie er versucht habe, Wissenschaftler dafür zu gewinnen, nach Leningrad zu fahren: „Es herrschte Skepsis vor gegenüber den neuen Möglichkeiten, teils auch Angst. Wirklich erstaunlich war, dass ich nicht nur Physiker und Chemiker überzeugen musste, sondern auch Wissenschaftler aus dem Osteuropa-Institut.“ Sogar Slawisten wollten anfangs nicht unbedingt nach Leningrad.

Von 1971 an konnten Studentinnen und Studenten der Slawistik aus Berlin sechswöchige russische Sprachkurse an der Leningrader Staatlichen Universität besuchen. 1974 wurde ein zweiter Sprachkurs von vier Monaten Dauer ins Leben gerufen. Unter der Bezeichnung Rossicum I und II wurden diese Kurse zu einem festen Bestandteil der Slawistenausbildung an der Freien Universität. In den folgenden 25 Jahren nahmen insgesamt rund 700 Menschen daran teil.

Aufeinanderzugehen durch Zusammenarbeit in Kultur und Wissenschaft

„Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre, des Prager Frühlings und der neu gebauten Berliner Mauer war der Beginn dieser Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und der Leningrader Staatlichen Universität besonders bemerkenswert und erfreulich“, sagt Eckhard Matthes. Als habe man quasi nach therapeutischen Maßnahmen gesucht, den Ost-West-Konflikt zu lösen, seien beide Seiten über die Zusammenarbeit in Kultur und Wissenschaft aufeinander zugegangen. Die universitäre Kooperation, die 1968 entstand, war bereits ein Schritt in die Richtung, die dann durch die Ostpolitik Willy Brandts eingeschlagen wurde.

Die Partnerschaft hat allen politischen Verwerfungen und historischen Umbrüchen standgehalten und sich nach dem Fall der Mauer erheblich intensiviert: Aktuell ist die Staatliche Universität Sankt Petersburg einer der wichtigsten Partner der Freien Universität Berlin. „Auch deshalb kommen jedes Jahr Forscherinnen und Forscher der Universität St. Petersburg als Gastwissenschaftler an die Freie Universität“, erzählt Verbindungsbüro-Leiter Stüdemann.

Fortsetzung eines historischen Erbes

Mit der Partnerschaft wurde aber auch ein historisches Erbe fortgesetzt: Die St. Petersburger Universität war 1724 per Dekret von Peter dem Großen gegründet worden, mit dem Hinweis deutsche Professoren zu berufen – und Deutsch war neben Latein bis fast zum Ende des 19. Jahrhunderts offizielle Amtssprache an dieser Universität. Hinzu kam, dass in Russland Deutsch noch bis Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts erste Fremdsprache war. „In den 50er- und 60er Jahren lernten jährlich eine Million Menschen in der Sowjetunion Deutsch“, sagt Günter Kaindl, „und viele der älteren deutschen Wissenschaftler waren noch des Russischen mächtig, sei es durch Kriegsgefangenschaft oder familiäre Hintergründe.“ Kaindl war einer der ersten Profiteure des Austausches. Der Physik-Professor war 1968 noch wissenschaftlicher Assistent bei Nobelpreisträger Rudolf Mößbauer an der Technischen Universität München, der in seinem Institut schon ab Mitte der 60er Jahre intensive wissenschaftliche Kontakte mit sowjetischen Wissenschaftlern pflegte. Nach einer dreijährigen Zwischenstation als Miller-Fellow an der University of California, Berkeley, und einem kurzen Intermezzo als Jungprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, kam der Bayer 1976 als ordentlicher Professor an die Freie Universität. Am Fachbereich Physik setzte er die partnerschaftlichen Kontakte seines Vorgängers Stefan Hüfner mit der physikalischen Fakultät der Universität St. Petersburg fort und intensivierte sie erheblich. „Diese deutsch-russische Partnerschaft hat meinen wissenschaftlichen Werdegang und meinen Weltblick wesentlich erweitert und bereichert“, sagt Kaindl heute.

„Austausch zwischen Menschen, zwischen Wissenschaftlern“

War es für ihn kein Widerspruch, als Mitarbeiter der Freien Universität im Westsektor mit einer Universität in der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, die hinter dem „Eisernen Vorhang“ lag? Gab es keine Vorbehalte? „Überhaupt nicht“, sagt Kaindl rückblickend. „Ich bin ein konservativ-progressiver Bayer und schon zu Schulzeiten in den 50er Jahren in der Welt unterwegs gewesen. Jeder an der Freien Universität wusste, dass ich kein Freund des Kommunismus bin.“ Er habe aber auch damals schon zwischen der sowjetischen Politik und der Bevölkerung klar unterschieden. Es sei ihm damals wie heute um den Austausch zwischen Menschen, zwischen Wissenschaftlern gegangen. „Politische Aspekte waren für mich zweitrangig.“

In der Ära des Sowjetkommunismus war der Dialog dennoch nicht immer einfach. Kaindl war, nachdem er an die Freie Universität berufen worden war, 1980 zum ersten Mal in der Sowjetunion, um an der Leningrader Universität an einem deutsch-russischen Workshop teilzunehmen. „Es war ein kleines Treffen im historischen Hörsaal des Professors Dmitri I. Mendelejew, gemeinsam organisiert mit dem Stuttgarter Max-Planck-Institut für Festkörperforschung. Sieben oder acht deutsche Professoren nahmen teil.“ Jeder deutsche Teilnehmer habe einen eigenen Dolmetscher und einen eigenen Fahrer gehabt, erinnert sich Kaindl. Bei diesem Workshop traf er auch einen jungen Postdoktoranden wieder, der zuvor im Rahmen des Partnerschaftsvertrags in seiner Arbeitsgruppe an der Freien Universität einen längeren Forschungsaufenthalt verbracht hatte.

An einem Nachmittag habe dieser einen Vortrag halten sollen. „Ich war Chairman der Sitzung, aber mein Postdoktorand erschien nicht.“ Erst abends, als Kaindl in dessen Wohnung in Peterhof zum Essen eingeladen war, sollte er den Grund erfahren: Er habe so lange in diversen Schlangen stehen müssen, um die Lebensmittel für den Abend zu besorgen, entschuldigte sich der Postdoktorand.

Nach dem Mauerfall konnten die Partner auf den zuvor geknüpften Beziehungen aufbauen

Nach dem Mauerfall und dem Ende der Sowjetunion geriet Russland, auch durch einen extrem niedrigen Ölpreis, in eine ernste finanzielle Notlage, es herrschte Mangelwirtschaft. „Ein Professor verdiente damals umgerechnet nicht viel mehr als 100 Mark im Monat.“ Kaindl lagen allerdings die deutsch-russischen Beziehungen sehr am Herzen, gerade aufgrund der bereichernden Erfahrungen im Umfeld des Partnerschaftsvertrags. Deshalb setzte er sich in dieser Zeit auch für Förderprogramme und Stipendien ein – wie etwa das durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst und das Auswärtige Amt geförderte Leonhard-Euler-Stipendien-Programm, das der Freien Universität jedes Jahr für die Partnerschaft mit der St. Petersburger Universität etwa zehn Stipendien für besonders begabte russische Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zur Verfügung stellte. Diese wurden ein Jahr lang an ihrer Heimatuniversität gefördert, verbunden mit einem einmonatigen Gastaufenthalt an der Freien Universität.

Darüber hinaus schlug Kaindl 1994 dem damaligen Bundesminister für Forschung und Technologie, Paul Krüger, den Bau zweier Messstationen für Forschung mit Röntgenstrahlen beziehungsweise Neutronen vor, die speziell der Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftlern gewidmet sein sollten. Der Minister fand den Vorschlag gut – stellte aber keine Mittel zur Verfügung. Von russischer Seite wurde dieses Vorhaben von Kaindls Kollegin an der St. Petersburger Universität, Professorin Vera K. Adamchuk, wie auch von deren ehemaligem Doktoranden, Serguei Molodtsov, damals Postdoktorand in Kaindls Arbeitsgruppe, begeistert unterstützt. Vier Jahre später gelang es Kaindl dann doch, einen erheblichen Teil der erforderlichen Investitionsmittel zur Errichtung eines russisch-deutschen Labors am Berliner Elektronenspeicherring für Synchrotronstrahlung (BESSY II in Berlin-Adlershof, heute Teil des Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie, HZB) durch einen erfolgreichen Antrag bei der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin einzuwerben. Während sich für den Bau einer Neutronen-Messstation, die beispielsweise am Berliner Forschungsreaktor BER II des Hahn-Meitner Instituts (heute auch Teil des HZB) hätte errichtet werden können, kein Wissenschaftlerteam fand, wurde die Messstation für Forschung mit Röntgenstrahlen bei BESSY II im Jahre 2001 in Betrieb genommen. Heute, nach 17 Jahren, zählt die Station zu den erfolgreichsten Messstationen bei BESSY II – mit bisher schon mehr als 650 Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften.

„Ohne den Partnerschaftsvertrag von vor 50 Jahren, ohne die Zusammenarbeit mit den Petersburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wäre all das nicht möglich gewesen“, sagt Günter Kaindl. Und vielleicht auch nicht ohne die beiden Diplomaten, die im Januar 1966 unangekündigt die Freie Universität besuchten.