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Der Spur der Bücher folgen

20 Jahre „Washingtoner Erklärung“: Interview mit Ringo Narewski, Leiter der Stabsstelle NS-Raub- und Beutegut, nach der Berliner Tagung des Arbeitskreises „Provenienzforschung und Restitution in Bibliotheken“

20.12.2018

Exlibris Ernst Feder: Der Schriftsteller und Journalist (1881-1964) floh 1933 aus Deutschland. Im Besitz der UB befindet sich ein Buch aus seiner mehrere tausend Bände umfassenden Bibliothek. Eine Rückgabe an Erben konnte bislang nicht erfolgen.

Exlibris Ernst Feder: Der Schriftsteller und Journalist (1881-1964) floh 1933 aus Deutschland. Im Besitz der UB befindet sich ein Buch aus seiner mehrere tausend Bände umfassenden Bibliothek. Eine Rückgabe an Erben konnte bislang nicht erfolgen.
Bildquelle: Universitätsbibliothek Freie Universität Berlin

Nicht nur Kunstwerke, auch unzählige Bücher haben die Nationalsozialisten während des „Dritten Reiches“ enteignet. Darunter viele, die heute noch in deutschen Bibliotheken stehen. 1998 hat sich Deutschland in den „Washingtoner Prinzipien“ verpflichtet, neben Kunstwerken auch Bücher nach Möglichkeit an die Familien der Besitzer zurückzugeben. Aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Erklärung haben sich Ende November in Berlin rund 60 Provenienzforscherinnen und -forscher des Arbeitskreises „Provenienzforschung und Restitution in Bibliotheken“ getroffen, um Bilanz zu ziehen. Organisiert wurde die Tagung von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, dem Centrum Judaicum und der Freien Universität Berlin.

Herr Narewski, Sie prüfen den Bücherbestand der Freien Universität Berlin auf NS-Raub- und Beutegut. Wie gehen Sie dabei vor?

Wir suchen zunächst nach Büchern, die bis zum Jahr 1945 erschienen sind und schauen, ob es darin Hinweise auf frühere Besitzer gibt. Manchmal finden wir Namen, manchmal Stempel von Institutionen oder Exlibris, kleine Bildchen, die früher in die Bücher eingeklebt wurden. Fehlt all das, können wir das Buch mit ähnlichen Büchern vergleichen. So lassen sich Merkmale finden, die darauf hindeuten, dass es einmal woanders gewesen ist. Dies alles zusammengenommen hilft uns herauszufinden, wo Bücher waren, bevor sie in die Bibliotheken der Freien Universität Berlin gelangt sind. Von hier aus versuchen wir zu erforschen, ob frühere Eigentümer von Büchern während der nationalsozialistischen Diktatur und während des Zweiten Weltkrieges enteignet wurden. Ist dies der Fall, beginnen wir mit der Suche nach Angehörigen oder Nachfolgeorganisatoren der enteigneten Personen oder Institutionen.

Nach 1945: Rudi Otto Georg Garski (1910-1985) floh Ende der 1940er Jahre aus der Sowjetischen Besatzungszone in Berlin. Sein Eigentum wurde beschlagnahmt. Im Besitz der UB befinden sich zwei seiner Bücher. Seine Familie verzichtete auf die Rücknahme.

Nach 1945: Rudi Otto Georg Garski (1910-1985) floh Ende der 1940er Jahre aus der Sowjetischen Besatzungszone in Berlin. Sein Eigentum wurde beschlagnahmt. Im Besitz der UB befinden sich zwei seiner Bücher. Seine Familie verzichtete auf die Rücknahme.
Bildquelle: Universitätsbibliothek Freie Universität Berlin

Ringo Narewski leitet an der Freien Universität die Stabsstelle NS-Raub- und Beutegut. Die Universitätsbibliothek in Dahlem bemüht sich seit 2013 im Rahmen ihrer NS-Raub- und Beutegutforschung um eine stärkere Vernetzung der Projekte in der Region.

Ringo Narewski leitet an der Freien Universität die Stabsstelle NS-Raub- und Beutegut. Die Universitätsbibliothek in Dahlem bemüht sich seit 2013 im Rahmen ihrer NS-Raub- und Beutegutforschung um eine stärkere Vernetzung der Projekte in der Region.
Bildquelle: Jenny Jörgensen

Um welche Bücher handelt es sich dabei?

Allgemein geht es um alle Arten von Literatur: Belletristik, Romane, Kinderbücher, wissenschaftliche Werke. Für uns liegt der Schwerpunkt auf der Wissenschaft. Es sind oft ganz einfache Bücher, nichts Besonderes, und in aller Regel sind sie von geringem finanziellem Wert. Aber wenn wir sie den Nachfahren der Besitzer übergeben können, sind das manchmal die einzigen Gegenstände, die ihnen von ihren vertriebenen und ermordeten Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern bleiben.

Können Sie uns einen Fall erzählen?

2014 fanden wir in vier Bänden einer Werkausgabe von Heinrich von Kleist ein Exlibris in Hebräisch. Es verwies auf den jüdischen Steinmetz Gerson Frohmann-Holländer aus Frankfurt. Seine Familie wurde wie alle jüdischen Familien von den Nationalsozialisten aus rassischen Gründen verfolgt. Während sein Sohn die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland verbachte und überlebte, wanderten seine Tochter, sein Schwiegersohn und seine Enkelin 1938 und 1939 nach New York aus, sodass sie dem Holocaust entkamen. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Verfolgung und Flucht belasteten Frohmann-Holländers Tochter so stark, dass sie noch im Jahr ihrer Flucht im Exil Selbstmord beging. Ihr Mann und die gemeinsame Tochter kämpften noch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges um die Anerkennung der Ehefrau und Mutter als Opfer des nationalsozialistischen Terrors und um eine Entschädigung für das erlittene Unrecht. Diese Recherche führte uns schließlich zu einer Ur-Enkelin von Gerson Frohmann-Holländer, der wir 2017 die bei uns gefundenen Bücher ihres Ur-Großvaters zurückgeben konnten. Der Kontakt kam übrigens über Facebook zustande.

Dr. Karl Bastin (1882-1960) und Margarete Bastin (1883-1968) überlebten das „Dritte Reich“ im Untergrund, ihr Eigentum wurde beschlagnahmt. Die Erben der beiden in UB-Besitz befindlichen Bücher konnten bisher nicht ermittelt werden.

Dr. Karl Bastin (1882-1960) und Margarete Bastin (1883-1968) überlebten das „Dritte Reich“ im Untergrund, ihr Eigentum wurde beschlagnahmt. Die Erben der beiden in UB-Besitz befindlichen Bücher konnten bisher nicht ermittelt werden.
Bildquelle: Universitätsbibliothek Freie Universität Berlin

Wie hat die Ur-Enkelin reagiert?

Sie hat sich sehr gefreut. Zusätzlich zu den Büchern konnten wir ihr auch die Informationen, die wir über ihre Familiengeschichte recherchiert haben, übergeben. Das interessiert die Nachfahren sehr.

Ende November haben Sie sich in Berlin mit Provenienzforscherinnen und -forschern von Bibliotheken ausgetauscht. Was wurde diskutiert?

Bei dem Treffen wurde deutlich, wie aufwendig die einzelnen Recherchen sind und dass wir, um dies leisten zu können, eine langfristige Finanzierung und festes, qualifiziertes Personal für die Provenienzforschung in öffentlichen Einrichtungen brauchen. Besonders in Bibliotheken ist die Anzahl der zu untersuchenden Bücher immens. Allein an der Freien Universität gibt es mehr als eine Million Bücher, die bis 1945 erschienen ist und die wir uns anschauen müssen. Seit 2014 konnten wir mehr als 100000 Bücher überprüfen und darin enthaltene Provenienzen erfassen. Hiervon wurden bislang mehr als 200 Bücher eindeutig als Raubgut identifiziert.

Nicht mitgezählt sind die noch offenen Fälle, bei denen wir noch keine abschließende Bewertung vornehmen konnten, bei denen uns Ansprechpartnerinnen und –partner für eine Rückgabe fehlen sowie jene, bei denen wir ausschließen konnten, dass es sich um Raubgut handelt. Immer wieder stoßen wir auch auf Enteignungen aus der Zeit nach 1945, etwa während der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Hier ist noch nicht gänzlich geklärt, wie wir mit diesen unrechtmäßigen Enteignungen umgehen sollten. Intuitiv würde man hier genauso verfahren wollen wie bei den Enteignungen aus der NS-Zeit. Manche Fälle lassen sich schnell lösen, andere, wie der von Frohmann-Holländer, brauchen Zeit.

Was wünschen sie sich für die Zukunft?

Eine stärkere Vernetzung über die Bibliothekswelt hinaus und auch international. Wir arbeiten innerhalb der Freien Universität in Ansätzen mit Meike Hoffmann, promovierte Kunsthistorikerin an der Arbeitsstelle für „Entartete Kunst“, zusammen. Bibliothekarinnen, Kunsthistoriker und Archivarinnen haben ihr Potenzial hier noch lange nicht ausgeschöpft. Wir bewegen uns auf demselben Arbeitsfeld, nutzen dieselben Forschungsinstrumente und –wege, und unsere Ergebnisse überschneiden sich nicht selten. Wer Kunst sammelte und verfolgt wurde, besaß oftmals auch eine Bibliothek, die gemeinsam mit den Kunstwerken und anderem Besitz enteignet wurde.

Langfristig wäre es dringend notwendig, eine gemeinsame Datenbank für die Provenienzforschung in Bibliotheken, Museen und Archiven zu entwickeln, in der die Forschungsergebnisse umfassend verzeichnet und zusammengeführt werden. Ziel wäre es, die Forschung effektiver zu gestalten und den Aufwand durch Wissensbündelung zu minimieren. Mit der kooperativen Datenbank Looted Cultural Assets, die nicht nur von uns, sondern von mehreren bundesdeutschen Bibliotheken betrieben wird und in der wir unsere Forschungsergebnisse zusammenführen, verfügen wir zumindest für den bibliothekarischen Bereich schon über einen sehr guten und in der Forschungsgemeinschaft breit akzeptierten Ansatz für dieses Problem. Aber alles ist verbesserungs- und ausbaufähig, und das Ziel sollte ein gemeinsames Forschungsinstrument sein.

Die Fragen stellte Amely Schneider